Seite 1 bei Google kann so einfach sein.

Bürger wehren sich immer öfter gegen Privatisierungen

Halbjahres-Bilanz der direkten Demokratie

Die Debatte über die direkte Demokratie in Deutschland wurde im ersten Halbjahr 2002 von der Abstimmung des Bundestages über die Aufnahme von Volksentscheiden in das Grundgesetz dominiert, die am 7. Juni am Veto der Union scheiterte. Während die Bürger also weiter auf mehr Mitsprache auf nationaler Ebene warten müssen, machen sie intensiv Gebrauch von ihren Rechten in den Ländern. Vor allem in den Kommunen ist der Trend zum Bürgerbegehren ungebrochen. Dies stellt der Fachverband Mehr Demokratie in seiner Halbjahres-Bilanz der direkten Demokratie fest.

Auf Landesebene streben derzeit acht Initiativen Volksabstimmungen an. Spitzenreiter ist Hamburg, wo allein drei Volksinitiativen gegen verkaufsoffene Sonntage, die Privatisierung von Krankenhäusern und für ein neues Wahlrecht eingeleitet wurden. Der von Gewerkschaften und Kirchen lancierte Antrag "Sonntag ist nicht alle Tage" konnte nach der Einreichung von 20.000 Unterschriften bereits einen Erfolg verbuchen. Der Senat kündigte an, statt wie geplant bis zu 28 nur noch vier Shopping-Sonntage zu erlauben.

In Schleswig-Holstein lehnte der Landtag die Forderung ab, den Schutz pflegebedürftiger Menschen in die Verfassung aufzunehmen. Jetzt überlegen Sozialverbände, einen Volksentscheid einzuleiten. Für ein Klon-Verbot in der Landesverfassung streitet die bayerische ÖDP. Sie hat die erforderlichen 25.000 Unterschriften für die Beantragung eines Volksbegehrens im Juni eingereicht.

In einem vielbeachteten Urteil gab das Landesverfassungsgericht Sachsens grünes Licht für den 62.000 Bürgern unterstützten Volksantrag "Zukunft braucht Schule".Erstmals erklärten damit die Richter eines Landes Volksbegehren für zulässig, wenn sie sich auf den Landeshaushalt auswirken. Mit diesem Urteil wird der Spielraum für die direkte Demokratie erheblich ausgeweitet. In Sachsen ist jetzt der Weg frei für einen Volksentscheid über die von der Landesregierung geplanten Schulschliessungen.

Chancenlos ist hingegen das Volksbegehren der Republikaner gegen die Zuwanderung in Niedersachsen. Bisher liegen nach Angaben auf der Website der Partei weniger als 500 Unterschriften vor. Schliesslich startete in NRW eine Volksinitiative, die die Standorte von sechs geplanten Forensik-Kliniken auf den Prüfstand stellt.

Gleich drei Referenden stehen am 22. September in Hessen auf der Tagesordnung. Dann befinden die Wähler über die Verlängerung der Wahlperiode sowie die Verankerung der Sportförderung und des Lastenausgleichs zwischen Land und Kommunen in der Verfassung. Nachdem die Landesregierung die drei Abstimmungen zunächst koppeln wollte, gab sie schliesslich dem Protest von Opposition und Juristen nach. Jetzt stimmen die Wähler über jede Frage einzeln ab.

Immer öfter wehren sich die Bürger gegen den Ausverkauf des städtischen Tafelsilbers. Zwei Drittel der Wähler in Münster stimmten am 16. Juni gegen die Privatisierung der Stadtwerke. Im ersten landkreisweiten Bürgerentscheid Schleswig-Holsteins votierte in Nordfriesland eine satte Mehrheit für den Verbleib der vier Kreis-Krankenhäuser in öffentlicher Hand.

In Zwickau und Hamburg unterschrieben jeweils über 20.000 Wähler gegen Klinik-Privatisierungen, in Landau wehrt sich Attac gegen den Verkauf der Müllabfuhr. Als nächstes haben die Aachener das Wort: Sie stimmen am 15. September über die Privatisierung des städtischen Wohnungsbaus ab. Kirchen, Gewerkschaften und Mieter hatten den Bürgerentscheid eingeleitet.

Doch das Beispiel Aachen zeigt nach Ansicht von Mehr Demokratie auch, wie schwer sich Politik und Verwaltung oft noch mit der direkten Demokratie tun. Die Bürger erhalten keine Abstimmungs-Benachrichtigung, und auch Briefwahl ist nicht möglich. Der Termin für den Urnengang eine Woche vor der Bundestagwahl lässt aufhorchen. Die Koppelung mit der Wahl hätte Kosten gespart und eine hohe Beteiligung sichergestellt. Die Behinderungen vergrössern nach Ansicht der Volksentscheid-Freunde die Gefahr, dass die Initiative am Quorum scheitert.

Mehr Demokratie kämpft seit Jahren für faire Spielregeln beim der direkten Demokratie in Ländern und Gemeinden. Nachdem in den vergangenen Jahren bereits mehrere Landtage die Hürden gesenkt haben, setzt sich die Debatte auch in diesem Jahr fort. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen senkte Anfang März einstimmig die Hürde für Volksbegehren von 20 auf acht Prozent und führte die Volksinitiative ein.

Schleswig-Holstein hat das Zustimmungsquorum für Bürgerentscheide von 25 auf 20 Prozent herabgesetzt. Die Landtage in Bremen und Thüringen diskutieren derzeit die Vereinfachung von Volksentscheiden.

Der sächsische Landtagspräsident Erich Iltgen (CDU) forderte für sein Land ebenso eine Debatte über mehr direkte Demokratie wie der ehemalige Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reinhard Höppner (SPD). Die baden-württembergische SPD hat vor wenigen Tagen ein Reformpaket für leichtere Bürger- und Volksentscheide vorgelegt.

"Die Signale der letzten Monate sind ermutigend", bilanziert Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von Mehr Demokratie, diese Entwicklungen. "Die erstmals seit 1949 erreichte Mehrheit im Bundestag war ein wichtiger Etappensieg, der Volksentscheid auf Bundesebene wird kommen." Das sächsische Urteil gegen das Finanztabu und die Reform in NRW seien wichtige Meilensteine für die direkte Demokratie in Deutschland. Die Menschen machten sinnvoll Gebrauch von ihren Rechten. "Bürger- und Volksbegehren zeigen, wo den Wählern der Schuh drückt. So schreitet die Verankerung der direkten Demokratie in den Köpfen und den Verfassungen weiter voran."