Seite 1 bei Google kann so einfach sein.

Internationale Atomenergie Organisation nennt keine konkreten Opferzahlen mehr

Tschernobyl-Folgen

Anlässlich des 20. Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl haben Politiker, Kirchen und Umweltschützer vor den Gefahren der Atomkraft gewarnt. In Kiew legte der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko Rosen an einem Denkmal für die Feuerwehrleute nieder, die bei der Katastrophe ums Leben kamen. Im Laufe des Tages wollte Juschtschenko auf dem Gelände des Atomkraftwerks in Tschernobyl der zahlreichen Opfer gedenken. Das Ausmaß der Katastrophe vom 26. April 1986 ist weiterhin Gegenstand heftiger Diskussionen. Umweltschützer gehen auf der Basis von wissenschaftlichen Studien von mehreren zehntausend bis über hunderttausend Todesoopfern aus. Sie verweisen zugleich auf "methodische Probleme" und die "Geheimhaltung von Daten". Heftige Kritik üben sie an "den Unstimmigkeiten" bei den im vergangenen September veröffentlichten Zahlen der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA) und an der Weltgesundheitsorganisation WHO. In einer aktuellen Stellungnahme vermied es die IAEA nun, ihre Zahlen vom September 2005 erneut zu nennen.

In einer Pressemitteilung im September 2005 hatte die IAEA mitgeteilt, dass es lediglich 50 Todesopfer gegeben habe und künftig mit höchstens 4.000 zusätzlichen Krebs- und Leukämietoten unter den am meisten belasteten Menschengruppen zu rechnen sei. Atomkritische Organisationen machten wiederholt darauf aufmerksam, dass dem zugrunde liegenden WHO-Bericht tatsächlich eine Zahl von rund 9.000 künftigen Toten zu entnehmen sei. Mehr noch: Nehme man die dem WHO-Bericht zugrunde liegende wissenschaftliche Originalquelle zur Hand, so summierten sich die dort genannten Zahlen auf 10.000 bis 22.000 Krebs- und Leukämietote.

ElBaradei: "Tausende" werden sterben

Die UN-Organisationen haben auf die heftige Kritik nur ausweichend reagiert, ihre Darstellung vom vergangenen September aber bislang nicht direkt revidiert. In einer aktuellen Stellungnahme vom 25. April vermied es die IAEA allerdings, sich erneut auf konkrete Zahlen festzulegen. Von den höchstens 4.000 zusätzlichen Krebs- und Leukämietoten war keine Rede mehr.

Nach Darstellung von Generaldirektor Mohamed ElBaradei muss man davon ausgehen, dass zusätzlich zu den gestorbenen Rettungsarbeitern "Tausende" von Kindern Schilddrüsenkrebs bekommen hätten und dass "Tausende" anderer Personen in Zukunft an anderen Krebsarten sterben werden. Ansonsten verwies ElBaradei allerdings erneut auf die im September 2005 gemeinsam mit der WHO publizierten Berichte. Auf den Vorwurf, dass die darin enthaltenen Zahlen mit der wissenschaftlichen Originalquelle nicht übereinstimmen sollen, ging er nicht ein.

Robin Wood: "Die Akte Tschernobyl jetzt nicht schließen"

"Viele Krebserkrankungen zeigen sich erst 20 bis 40 Jahre, nachdem Menschen radioaktiv verstrahlt wurden", meint Bettina Dannheim von der Umweltschutzorganisation Robin Wood. Es wäre daher zynisch und ignorant gegenüber den Opfern der Reaktorkatastrophe, die Akte Tschernobyl jetzt zu schließen.

Auch der ehemalige Leiter der Abteilung Strahlung und Gesundheit bei der WHO, Keith Baverstock, habe kürzlich im Wissenschaftsmagazin Nature klargestellt, dass 20 Jahre nach der Reaktorexplosion noch unabsehbar sei, welche gesundheitlichen Folgen diese nukleare Katastrophe haben wird.

IPPNW: "Wir können den Behörden nicht vertrauen"

Nach Auffassung der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW könnte der Streit um die Opfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beigelegt werden, wenn die zuständigen staatlichen oder staatsnahen Behörden und wissenschaftlichen Fachgremien dazu übergingen, "seriöse und öffentlich nachvollziehbare wissenschaftliche Fakten zu veröffentlichen". Man bräuchte "den makaberen Streit um die Tschernobyl-Opfer" nicht. Es würde "vollständig genügen, wenn die zuständigen Behörden und die offiziellen Organisationen damit aufhören würden, ihre eigenen Zahlen zu manipulieren und die Öffentlichkeit zu täuschen". Die Internationale Atomenergie Organisation IAEO und die Weltgesundheitsorganisation WHO haben sich nach Auffassung der IPPNW mit ihrer Vorgehensweise "ins Abseits gestellt".

Nach Auffassung der Ärzteorganisation gibt es durchaus ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit, über die Dimensionen der Tschernobyl-Folgen informiert zu werden, um Lehren für das zukünftige Handeln ziehen zu können. Immerhin müsse man angesichts der wesentlich höheren Bevölkerungsdichte in Deutschland damit rechnen, dass nach einem Super-GAU etwa im Atomkraftwerk Biblis möglicherweise die 10-fache Opferzahl zu beklagen wäre.

Es stelle sich auch generell "die Frage nach den Entscheidungsgrundlagen der Politik". Politische Richtungsentscheidungen "mit sehr weit reichenden Auswirkungen für die Bevölkerung" basierten sehr häufig auf wissenschaftlichen Einschätzungen. Man könne den Vorgang nicht einfach so hinnehmen, "dass internationale Organisationen wie die IAEO und die WHO der Öffentlichkeit Forschungsergebnisse bewusst vorenthalten und der Politik falsche Entscheidungsgrundlagen liefern". Hier müssten Konsequenzen gezogen werden.

Die IPPNW verwies in diesem Zusammenhang auch auf das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), das sich jetzt der Tschernobyl-Folgen annehmen möchte. Jahrelang habe die Behörde "dementiert, dass es erhöhte Kinderkrebsraten in der Nahumgebung von deutschen Atomkraftwerken gibt". Erst auf Druck der IPPNW habe das Bundesamt schließlich die Forschungsergebnisse des Umweltinstituts München überprüft und bestätigt.

Auch die Diskussion um einen zweiten Tschernobyl-Sarkophag zeigt nach Ansicht der IPPNW, wie wichtig eine seriöse wissenschaftliche Forschung ist. So gebe es ernst zu nehmende wissenschaftliche Hinweise darauf, "dass das radioaktive Inventar des Katastrophenreaktors während des Unfalls größtenteils freigesetzt wurde und von dem Reaktor heute praktisch keine Gefahr mehr ausgehe". Statt aber diese Einschätzung des renommierten Moskauer Kurtschatov-Instituts für Atomenergie ernsthaft zu überprüfen, würden die westlichen Regierungen lieber Milliarden von Steuergeldern für westliche Gutachterorganisationen und für große Baukonzerne ausgeben, "die den möglicherweise überflüssigen zweiten Sarkophag bauen sollen", kritisiert die IPPNW. Für medizinische Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung würden hingegen fast keine staatlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden.

Für die Politikberatung ist nach Auffassung der Ärzteorganisation auch die Entwicklung an den Universitäten bedenklich: Die gegenwärtige Politik, auch universitäre Forschung zunehmend über Drittmittel zu finanzieren, werde "die Unabhängigkeit und Seriosität der Wissenschaft nicht erhöhen. Inzwischen würden schon "Lehrstühle von großen Atomkonzernen wie E.On co-finanziert".

Conrad: "Der Rohstoff Uran ist ebenso endlich wie Öl"

Neben Umweltschützern warnten auch zahlreiche Politiker vor den Gefahren der Atomenergie. "Es gibt bis heute weltweit kein einziges Atomkraftwerk, bei dem schwere Unfälle mit Sicherheit ausgeschlossen werden können", sagte die rheinland-pfälzische Umweltministerin Margit Conrad. Dies gelte auch für die modernsten Kraftwerkstypen.

Conrad erneuerte in diesem Zusammenhang ihre Kritik an der Diskussion um eventuelle Laufzeitverlängerungen. "Der Pannenreaktor Biblis liegt genau vor unserer Haustür, er gehört wie geplant abgeschaltet. Gerade hat es dort am letzten Freitag und Montag dieser Woche wieder zwei Defekte gegeben."

Als weitere Aspekte gegen die Nutzung von Kernkraft führte die Umweltministerin die Gefahr durch terroristische Angriffe an. Auch gebe es weltweit kein sicheres Endlagerkonzept und der Rohstoff Uran sei ebenso endlich wie Öl. "Es gibt auch keine sichere Trennung von ziviler und militärischer Nutzung der Atomkraft." Die Diskussion mit dem Iran sei hierfür nur ein Beispiel.

Gabriel: "Die Gesamtkosten" für den Tschernobyl-Sarkophag "werden über eine Milliarde Euro betragen"

Umweltminister Sigmar Gabriel wies Darstellungen zurück, wonach mit der Nutzung von Atomkraft den steigenden Energiekosten begegnet werden könne. In Frankreich gebe es "den meisten Atomstrom" und trotzdem höhere Strompreise als in Deutschland. Zugleich wandte er sich gegen die These, die Atomenergie trage zum Klimaschutz bei, weil fossile Brennstoffe wie Kohle und Gas auch CO2 produzierten. Dies sei so, als ob man die Wahl habe "zwischen der Gefahr durch Radioaktivität und der Gefahr durch CO2. Das ist ein bisschen wie Pest und Cholera", sagte Gabriel.

Gabriel plädierte auch für den Bau eines zweiten Tschernobyl-Sarkophags: Der explodierte Reaktor stelle weiterhin ein Sicherheitsrisiko dar, so der Minister. "Darum wird der einsturzgefährdete alte Sarkophag aus dem Jahre 1986 stabilisiert und neu ummantelt, was zum überwiegenden Teil westliche Staaten finanzieren. Die Gesamtkosten werden über eine Milliarde Euro betragen." Auf die Kritik an diesem Projekt ging der Minister nicht ein.

Hohlefelder: "Die deutschen Kernkraftwerke gehören unbestritten zu den sichersten weltweit"

Die deutschen Atomkraftwerksbetreiber hielten sich mit Stellungnahmen zu Tschernobyl zurück. Der Präsident des Deutschen Atomforums, Walter Hohlefelder, sprach sich am 24. April bei der energie- und klimapolitischen Tagung des Bundesumweltministeriums in Berlin dafür aus, das Thema Kernenergie "neu, offen und vorurteilsfrei" zu diskutieren. Alle Optionen für die Energieversorgung künftiger Generationen müssten offen gehalten und weiterentwickelt werden, sagte Hohlefelder, einst Spitzenbeamter der deutschen Atomaufsicht, der später zum heutigen Atomkraftwerksbetreiber E.On wechselte.

Zu diesen Optionen zähle auch die zukunftsfähige Kernenergie, sofern sie "wie in Deutschland technisch sicher und mit einem Höchstmaß an Sicherheitskultur" betrieben werde. Politische Forderungen, den Sicherheitsstand eines Kernkraftwerkes nach dem Alter der Anlage bewerten zu wollen, wies Hohlefelder zurück. Zum Erhalt des hohen deutschen Sicherheitsniveaus würden die Anlagen permanent sicherheitstechnisch verbessert und dem Stand der Technik nachgeführt. "Deshalb kann nur der sicherheitstechnische Zustand für die sicherheitstechnische Bewertung eines Kernkraftwerkes ausschlaggebend sein. Die deutschen Kernkraftwerke gehören unbestritten zu den sichersten weltweit", so Hohlefelder.

Bundesregierung: "Nein, sie gehören nicht zu den weltweit hochmodernsten und sichersten Atomkraftwerken"

Die Bundesregierung hat kürzlich in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage Zweifel an der Sicherheit deutscher Atomkraftwerke aufkommen lassen. Auf die Frage, ob die Atomkraftwerke Biblis A und B, Neckarwestheim und Brunsbüttel nach dem heutigen Stand noch genehmigungsfähig wären, antwortete die Bundesregierung: "Nein, sie gehören nicht zu den weltweit hochmodernsten und sichersten Atomkraftwerken. Sie entsprechen nicht dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik."