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Karlsruhe erlaubt heimliche Online-Durchsuchungen und schafft neues Grundrecht

NRW-Gesetz ist verfassungswidrig und nichtig

Das Bundesverfassungsgericht hat heimliche Online-Durchsuchungen privater Computer unter strengen Auflagen für zulässig erklärt. Diese verdeckte Fahndungsmethode dürfe aber nur dann angewandt werden, wenn es Anhaltspunkte einer "konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut" gebe, entschieden die Karlsruher Richter am 27. Februar. Zugleich schuf das Verfassungsgericht erstmalig ein "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme", um den Schutz vor staatlichen Eingriffen zu erhöhen. Die Verfassungsrichter stützten das neue Grundrecht in dem 106-seitigen Urteil auf die bestehenden Grundrechte einer freien Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf die Menschenwürde.

Als "Online-Durchsuchung" bezeichnet man verdeckte Zugriffe auf einen an das Internet angeschlossenen Computer, vor allem durch die Installation eines sogenannten Trojaners. Ziel ist es, das System zu überwachen und seine Speichermedien auszulesen.

Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist dem Urteil zufolge "verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt", so das Urteil. Die Maßnahme könne schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lasse, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintrete, sofern "bestimmte Tatsachen" auf eine "im Einzelfall" durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinwiesen.

Die heimlichen Online-Durchsuchungen erforderten grundsätzlich eine richterliche Zustimmung. Das Gesetz, das zu einem solchen Eingriff ermächtige, müsse Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen, so die Verfassungsrichter.

Bei Durchsuchungen der laufenden Telekommunikation im Rechnernetz ist der staatliche Eingriff an den Maßstäben des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses laut Grundgesetz zu messen. Verschafft der Staat sich Kenntnis von Inhalten der Internetkommunikation auf dem dafür technisch vorgesehenen Weg, so liegt dem Urteil zufolge darin nur dann ein Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis vor, wenn die staatliche Stelle nicht "durch Kommunikationsbeteiligte" zur Kenntnisnahme autorisiert ist.

Ein Eingriff in Grundrechte sei auch dann nicht gegeben, wenn der Staat im Internet "öffentlich zugängliche Kommunikationsinhalte" wahrnehme oder wenn er sich an öffentlich zugänglichen Kommunikationsvorgängen beteilige.

Die Bundesregierung hat es nun eilig Nach der Karlsruher Entscheidung strebt die große Koalition eine rasche Umsetzung des Urteils an. Die Fraktionsspitzen forderten die Bundesregierung gleich am 27. Februar zur Vorlage eines Gesetzesentwurfs auf. Vize-Regierungssprecher Thomas Steg sagte, alle Kabinettsmitglieder hätten ein solches Urteil erwartet. Nun werde eine geänderte Fassung des BKA-Gesetzes vorgelegt - mit einem Passus, durch den Online-Durchsuchungen grundgesetzkonform möglich seien.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) geht davon aus, dass die geplante Regelung im Bundeskriminalamtsgesetz "so rasch wie möglich umgesetzt werden kann". Er sagte, das Instrument werde "nur in wenigen, aber sehr gewichtigen Fällen zum Einsatz kommen". Dem Bundeskriminalamt (BKA) könne mit der Regelung "eine Kompetenz zur Abwehr von Gefahren aus dem internationalen Terrorismus" übertragen werden.

SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz rechnet mit einer Umsetzung des Urteils in einen Gesetzentwurf innerhalb von sechs bis acht Wochen. Wiefelspütz sprach wie Schäuble von nur wenigen Online-Durchsuchungen pro Jahr.

Nach Ansicht von Wiefelspütz sollte das neue Grundrecht ausdrücklich im Grundgesetz verankert werden. Man solle es "in den Text unserer Verfassung hinein schreiben". Es genüge nicht, "dieses Grundrecht lediglich als ungeschriebenes Grundrecht" wahrzunehmen.

Der ehemalige Bundesrichter und rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion, Wolfgang Neskovic, sagte, mit dem Urteil hätten die weitreichenden und schrankenlosen Pläne von Innenminister Schäuble einen herben Rückschlag erlitten. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht - wie erwartet - die Online-Durchsuchung nicht für generell unzulässig erklärt, es habe aber "größtmögliche Hürden" hierfür aufgestellt. Nur in Ausnahmefällen bei einer konkreten Gefahr für überragend wichtige Rechtsgüter komme die Online-Durchsuchung überhaupt in Betracht. "Damit sind sämtliche Pläne des Innenministers gescheitert, die darauf abzielten, die Online-Durchsuchung schon im Vorfeld von Straftaten zu ermöglichen", meint Neskovic.

Es sei jedoch zu bedauern, dass das Gericht im Kernbereich der privaten Lebensgestaltung hinter seiner bisherigen Rechtsprechung zurückbleibe, so der ehemalige Bundesrichter. In seinem Urteil zum "Großen Lauschangriff" hätte es diesen Bereich noch unter einen "absoluten Schutz" gestellt. "Durch sein heutiges Urteil hat es diesen Schutz relativiert, indem es zwar die Verwertung von Informationen aus diesem Bereich ausschließt, den Zugriff hingegen zunächst einmal für zulässig erachtet. Damit gibt es zukünftig keinen Bereich absolut geschützter privater Lebensgestaltung mehr", so Neskovic.

Sein Fraktionskollege Jan Korte forderte die Koalitionsfraktionen auf, ganz von der Online-Durchsuchung abzulassen: "Nicht alles, was technisch möglich ist, muss man auch machen." Die Online-Durchsuchung greife tief in die Grundrechte ein und bringe keine zusätzliche Sicherheit. "Statt immer neuer Schnüffelgesetze erwarte ich, dass die Privatsphäre der Bürger geschützt wird."

NRW-Gesetz ist verfassungswidrig und nichtig

Das Verfassungsgericht erklärte zugleich die konkret angegriffene Regelung zur Online-Durchsuchung im Verfassungsschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen für verfassungswidrig und nichtig. Die Vorschrift dort verletze das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das in dem im neuen Grundrecht seine Ausprägung finde.

Die Regelung sei zudem unverhältnismäßig und auch unklar formuliert. Das Gesetz war die bundesweit einzige Rechtsgrundlage für Online-Durchsuchungen.

Schaar: Die Vorratsspeicherung von Internet- und Telekommunikationsdaten gehört jetzt auf den Prüfstand

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar, betrachtet das Urteil als die aus Datenschutzsicht wichtigste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Volkszählungsurteil von 1983. In Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung habe das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte "gewichtig gestärkt", meint Schaar. Die Entscheidung habe gravierende Folgen für den Bundesgesetzgeber. "Sie ist bei der anstehenden Novellierung des BKA-Gesetzes strikt zu beachten."

Darüber hinaus gehören jetzt nach Auffassung des Bundesdatenschützers die Vorschriften auf den Prüfstand, welche die vertrauliche Verwendung informationstechnischer Systeme einschränkten, "etwa die Anfang dieses Jahres in Kraft getretenen Bestimmungen zur Vorratsspeicherung von Internet- und Telekommunikationsdaten und die Bestimmungen zur Beschlagnahme von IT-Systemen." In den letzten Jahren seien die Befugnisse der Sicherheitsbehörden stetig ausgebaut worden. "Das Ergebnis ist eine immer umfassendere Überwachung."

Das vom Bundesverfassungsgericht formulierte Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme schützt nach Auffassung von Schaar Daten in Computern, Netzen und anderen IT-Systemen umfassend. Das neue Grundrecht erstrecke den besonderen Grundrechtsschutz über das Fernmeldegeheimnis hinaus auch auf Verarbeitungsformen, bei denen es sich nicht um Telekommunikation im engeren Sinne handele, insbesondere auf die Inhalte von Computer-Festplatten und die Nutzung von Internetdiensten. "Das neue Grundrecht flankiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und trägt so den neuen Risiken Rechnung, die mit der zunehmenden Vernetzung von IT-Systemen einhergehen."

Nach Auffassung von Schaar dokumentiert das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung "erneut, dass in einem demokratischen Rechtsstaat ein angemessener Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit unverzichtbar ist. Erneut hat es den Schutz der Menschenwürde als oberstes Verfassungsgebot und den daraus folgenden absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung betont." Positiv hervorzuheben seien auch die Ausführungen des Gerichts zum informationstechnischen Selbstschutz, insbesondere zum Einsatz von Verschlüsselungsprogrammen.

(AZ: 1 BvR 370/07 und 1 BvR 595/07 - Urteil vom 27. Februar 2008)