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Retten die Franzosen das deutsche Grundgesetz?

Referendum

In Deutschland weiß man, wie gefährlich die Demokratie ist. Der Souverän, das Volk kann hin und wieder recht eigenwillig sein und folgt nicht immer den Empfehlungen von Wirtschaft und Politik. In Deutschland gab es daher kein Referendum über den "Vertrag über eine Verfassung für Europa". Anders in Frankreich. Dort wurde der umfangreiche Verfassungsvertrag allen Bürgern zugeschickt und es fanden intensive Diskussionen über dessen Inhalt statt. Beim Referendum am Sonntag wurde die Verfassung von 55 Prozent der Wahlbeteiligten abgelehnt. Die Beteiligung an der Abstimmung war mit 70 Prozent relativ hoch. Der Verfassungsentwurf, der von Kritikern als neoliberal, atomfreundlich und militaristisch bezeichnet wurde, ist damit formal gescheitert, da ihm alle 25 EU-Staaten zustimmen müssen. Aufgrund der Entscheidung der Franzosen bleibt es dem deutschen Grundgesetz vorläufig erspart, in den Rang einer bedeutungslosen Landesverfassung abzurutschen.

Das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges nach Artikel 26 des deutschen Grundgesetzes hat formal ebenso Bestand wie die Bestimmung in Artikel 20, wonach die Bundesrepublik Deutschland ein "demokratischer und sozialer Bundesstaat" ist. Auch enthält das Grundgesetz noch, heute meist als antiquiert betrachtete, Bestimmungen wie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums.

Der Verfassungsvertrag der Europäischen Union sieht hingegen eine Aufrüstungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten und eine Ermächtigung zu weltweiten Kriegseinsätzen vor. Eine dem Grundgesetz vergleichbare Verpflichtung zum Sozialstaat sucht man in dem Verfassungsvertrag vergeblich. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist mit der vielgepriesenen "Grundrechtecharta", die in den Verfassungsvertrag integriert wurde, zum Ausnahmetatbestand herabgestuft worden.

Der Souverän in Frankreich hat entschieden. Der vorgeschlagene "Vertrag über eine Verfassung für Europa" wurde mehrheitlich abgelehnt.

Für deutsche und französische Politiker und Wirtschaftsführer ist das kein Grund, diese demokratische Entscheidung zu akzeptieren. Bundeskanzler Schröder sagte zwar einerseits, man müsse "dieses Votum respektieren". Zugleich aber sagte er: "Der Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten muss weitergehen. Bisher haben bereits neun Mitgliedstaaten die Verfassung ratifiziert, darunter auch Deutschland. Bundestag und Bundesrat haben im Mai mit überwältigender Mehrheit für die Verfassung gestimmt. Wir wollen die Verfassung, weil wir ein demokratisches, soziales und starkes Europa wollen. Dafür werden wir uns weiter einsetzen."

Auch der deutsche Außenminister Joseph Fischer sagte einerseits, dieses Votum der französischen Bürgerinnen und Bürger sei "selbstverständlich" zu respektieren. Aber auch Fischer möchte die demokratische Entscheidung in Frankreich nicht als endgültig akzeptieren: "Bisher haben neun Mitgliedstaaten das innerstaatliche Zustimmungsverfahren abgeschlossen. Die Voten von Bundestag und Bundesrat – dieser hat noch vergangenen Freitag dem Vertrag zugestimmt - haben die überwältigende Zustimmung praktisch aller politischen Kräfte in Deutschland deutlich gemacht. In Spanien hat sich die Bevölkerung in einem Referendum mit deutlicher Mehrheit für den Vertrag ausgesprochen. In vielen anderen Mitgliedsstaaten haben die Ratifizierungsprozesse bereits begonnen. Ich gehe davon aus, dass diese auch zu Ende geführt werden."

Der Bundesausschuss Friedensratschlag feiert die französische Entscheidung hingegen als ein "Sieg der Demokratie". Am Sonntagabend sei eine vorsorglich angeschaffte Flasche Champagner geöffnet worden, weil die Franzosen diese "Militärverfassung" abgelehnt hatten.

"Die Friedensbewegung in Deutschland beglückwünscht ihre Freundinnen und Freunde in Frankreich zu diesem Ergebnis", sagte Peter Strutynski vom Friedensratschlag. "Sie waren es, die zusammen mit globalisierungskritischen Kräften, mit Gewerkschaften und linken Parteien für ein Nein geworben haben - nicht weil sie den europäischen Einigungsprozess ablehnen, sondern weil sie ein einiges, soziales, friedliches und demokratisches Europa wollen, ein Europa, das sich der Aufrüstung und dem Sozialabbau verweigert."

Mit der Abstimmung in Frankreich solle nun der Weg frei sein für ein neuerliches Nachdenken über die Perspektiven, die der Europäischen Union offen stehen: "Ist es der Weg in das neoliberale Wirtschaftsbündnis eines ungehemmten Shareholder-Kapitalismus oder der Weg in ein Europa des sozialen Ausgleichs und der Solidarität, in dem nicht der Mammon, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht? Ist es der Weg in eine militarisierte und hochgerüstete Weltmacht Europa, vor der die übrige Welt sich nicht mehr sicher fühlen kann, oder der Weg in eine Friedensmacht, die ihre Stärken ausschließlich im Aufbau ihrer zivilen, d.h. ökonomischen, sozialen, technologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Kompetenzen beweisen will?"

Wenn in ersten Reaktionen deutsche Politiker darauf hinweisen, dass die Abstimmung in Frankreich vorwiegend innenpolitisch motiviert gewesen sei, so lügen sie sich nach Auffassung von Strutynski in die eigene Tasche: "In keinem Land, das bisher die EU-Verfassung ratifiziert hat, gab es eine derart lebendige demokratische Diskussion über den Verfassungsvertrag, in keinem Land gibt es heute so viele Bürgerinnen und Bürger, die die Verfassung gelesen haben und die über den Inhalt der Verfassung gestritten haben." Das Abstimmungsergebnis sei auch keine Bestätigung für die Richtigkeit der politischen Entscheidung in Deutschland, kein Referendum abzuhalten. Die 95-prozentige Zustimmung im Bundestag und die fast komplette Zustimmung des Bundesrats zur EU-Verfassung verzerre den Willen der Bevölkerung bis zur Unkenntlichkeit. "Der EU-Verfassung fehlt in Deutschland die Legitimation", meint Strutynski. "Dies ist eine schwere Hypothek für den weiteren europäischen Integrationsprozess."

Strutynski teilt nicht die Ansicht der französischen Verteidigungsministerin Michele Alliot-Marie, die in einer ersten Stellungnahme von einer "Niederlage für Frankreich und einer Niederlage für Europa" sprach. "Es war ein Sieg der Demokratie", meint Strutynski, "und er wird sich dann segensreich für die Zukunft Europas auswirken, wenn die politische Klasse nun auch die Zeichen der Zeit versteht."