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Ärzteorganisation IPPNW klagt auf Stilllegung des Atomkraftwerks Biblis B

"Sensationelle Startbedingungen"

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW will das RWE-Atomkraftwerk Biblis B per Gerichtsbeschluss zügig stilllegen. Am Freitag (12. Dezember) wurde eine insgesamt 383 Seiten umfassende Klagebegründung beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel eingereicht. Die Organisation spricht von "sensationellen Startbedingungen" vor Gericht. IPPNW-Anwältin Wiltrud Rülle-Hengesbach erläutert warum: "Es dürfte einzigartig in einer atomrechtlichen Auseinandersetzung sein, dass der zentrale Vorwurf der Kläger von der beklagten Atomaufsichtsbehörde ausdrücklich zugegeben wird." Da das hessische Umweltministerium in einem Vermerk vom 19. September 2005 selbst eingeräumt habe, dass das Atomkraftwerk Biblis "selbstverständlich" nicht dem heutigen aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspreche, die Anlage also sicherheitstechnisch veraltet und faktisch auch nicht nachrüstungsfähig sei, liegen nach Angaben der Rechtsanwältin "die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Widerruf der Genehmigung von Biblis B laut Atomgesetz unstreitig vor".

Laut Klagebegründung gibt sogar der Biblis-Betreiber RWE zu, dass die Anlage sicherheitstechnisch "altert" und - so die Kläger - insofern nicht mehr dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht.

"Unsere Ausgangsposition vor Gericht ist insofern nicht schlecht", so Rülle-Hengesbach, die in dem Rechtsstreit drei Kläger vertritt, die Mitglieder der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW beziehungsweise der Bürgerinitiative "Biblis abschalten" sind. "Da die Tatbestandsseite unstreitig ist, werden wir uns vor dem Verwaltungsgerichtshof in Kassel nur noch über die so genannte Rechtsfolgenseite auseinandersetzen müssen, das heißt über die Frage, ob das Atomkraftwerk zwingend stillzulegen ist oder ob die Behörde, wie sie glaubt, im Rahmen einer Ermessensentscheidung die sicherheitstechnisch völlig veraltete Anlage dennoch weiterlaufen lassen darf."

Eine Ermessensentscheidung zugunsten des Weiterbetriebs ist aber nach Auffassung der Rechtsanwältin nicht rechtmäßig, weil nach dem Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts durch den Wegfall einer Risikovorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik "überragend wichtige Grundrechte der Kläger und der Allgemeinheit" verletzt würden und "das Ermessen der Behörde insofern auf Null reduziert" sei. Ein Bestandsschutz für gefährliche Altmeiler sei mit dem geltenden Atomgesetz nicht vereinbar und sei auch vom Bundesverwaltungsgericht im Whyl-Urteil ausdrücklich verneint worden.

"210 schwerwiegende Sicherheitsmängel"

Die hessische Atomaufsicht ist nach Auffassung der Atomkritiker auch deswegen zur Stilllegung von Biblis B gezwungen, weil wegen der vielen Sicherheitsmängel bei der Störfallbeherrschung eine "Gefahr" im Sinne des Atomgesetzes vorliege. Die IPPNW hat für das Verfahren 210 "schwerwiegende Sicherheitsmängel" von Biblis B dokumentiert. "Wir stützen uns hierbei insbesondere auf Bewertungen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und des TÜV Süd. Das sind die Hausgutachter der Atomaufsicht des Bundes und des Landes Hessen. Wir tragen also nur die sicherheitstechnischen Mängel vor Gericht vor, die die Experten der Behörden selbst sehen", sagte ein Sprecher der Organisation. "Es dürfte die Richter des Verwaltungsgerichtshofs in Kassel kaum überzeugen, wenn die hessische Atomaufsicht sicherheitstechnische Bewertungen der eigenen Gutachter abstreiten oder relativieren will."

Die Atomkritiker verweisen auf 20 Mängel bei der Beherrschung der gefährlichen "kleinen Lecks", auf 17 Mängel bezüglich der hochkomplexen Abläufe bei einem "Dampferzeuger-Heizrohrleck" und auf 24 Sicherheitsmängel bezüglich des gefürchteten Notstromfalls. Ein sehr kleines Primärkreisleck 1995, eine Dampferzeuger-Kleinstleckage 1998 und die wiederholten Notstromfälle – zuletzt am 8. Februar 2004 infolge eines Unwetters – machen nach Auffassung der IPPNW "deutlich, dass es in Biblis B jederzeit zur Atomkatastrophe kommen kann".

Bundesverwaltungsgericht verlangt Schutz auch gegen "auslegungsüberschreitende Ereignisse"

Nach einem aktuellen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 2008 sind Atomkraftwerke nicht nur gegen "Auslegungsstörfälle", sondern auch gegen "auslegungsüberschreitende Ereignisse" zu schützen. "Die katastrophal schlechte Kernschmelzfestigkeit und der völlig unzureichende Schutz gegen Störfälle mit Ausfall der Reaktorschnellabschaltung bekommen so vor dem Gerichtshof in Kassel vermutlich ein sehr viel größeres Gewicht als bisher gedacht", hofft die IPPNW. "Das Gericht dürfte in diesem Zusammenhang auch den OECD-Bericht von 1997 würdigen, in dem die deutsche Anlage Biblis B im internationalen Vergleich am schlechtesten abschneidet."

"Es wäre rein willkürlich, Biblis B unter den gleichen Voraussetzungen wie Mülheim-Kärlich nicht stillzulegen"

Die Anwältin verweist ferner darauf, dass nach dem Whyl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Atomaufsicht "Gefahren" durch "hinreichend konservative Annahmen" ausschließen müsse. "Da unter anderem der Erdbebenauslegung von Biblis B keine konservativen Annahmen zugrunde liegen, besteht eine Gefahr im Sinne des Atomgesetzes", so Rülle-Hengesbach. Die hessische Atomaufsicht verlange aber lediglich einen Schutz gegen die schwächere Hälfte der am Standort Biblis möglichen Erdbeben. "Im Fachjargon heißt das, dass die Begutachtung der Erdbebenfestigkeit lediglich auf der Basis der 50%-Fraktilen erfolgt. Der eigene Erdbeben-Gutachter der Behörde, die Reaktorsicherheitskommission wie auch das Oberlandesgericht Rheinland-Pfalz haben aber übereinstimmend festgestellt, dass die Verwendung der 50-%-Fraktile nicht konservativ ist".

Das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich sei deswegen stillgelegt worden. "Die Stilllegung wurde durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rechtskräftig", betont Rülle-Hengesbach. "Das zeigt, dass es rein willkürlich wäre, Biblis B unter den gleichen Voraussetzungen wie Mülheim-Kärlich nicht stillzulegen."

Atomkritiker: Laut Atomgesetz dürfen noch nicht einmal Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betreibers bestehen

Die Atomkraftgegner prangern auch an, dass der Biblis-Betreiber RWE nicht zuverlässig sei. Nach dem Atomgesetz dürften aber noch nicht einmal Zweifel ("Bedenken") an der Zuverlässigkeit des Betreibers bestehen. Tatsache sei aber, dass RWE wiederholt aus Gefahrenhinweisen nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen habe, kritisiert die IPPNW. Sie hält RWE weiterhin vor, die Anlage zu selten und sogar mit ungeeigneten Methoden zu untersuchen, bei sicherheitsrelevanten Arbeiten beständig schwerwiegende Fehler zu machen, erforderliche Nachrüstungen jahrelang zu verschleppen oder überhaupt nicht durchzuführen. Auch hätte RWE selbst längst die Stilllegung von Biblis B beantragen müssen, weil die Anlage gravierend vom Stand von Wissenschaft und Technik abweiche. Verwiesen wird ferner darauf, dass die Atomaufsicht selbst, Gutachter und alle Landtagsfraktionen immer wieder schwere Vorwürfe gegen RWE erheben.

Atomaufsicht: Man kann RWE die Zuverlässigkeit in einer Prognoseentscheidung nicht absprechen

Das Hessische Umweltministerium wies diese Vorwürfe in einem Bescheid vom 10. April 2008 vollständig zurück. Man könne RWE die Zuverlässigkeit in einer Prognoseentscheidung nicht absprechen, so die Atomaufsicht.

Die IPPNW glaubt aber, das Gericht davon überzeugen zu können, "dass Biblis B aus ganz unterschiedlichen Gründen nach geltendem Recht stillgelegt werden muss". So werde beispielsweise auch die unzureichende Deckungsvorsorge angesprochen. Selbst die Juristen der Bundesatomaufsicht hielten es für nicht rechtmäßig, dass nach einem Atomunfall noch nicht einmal 0,1 Prozent der finanziellen Schäden ausgeglichen werden könnten. Das sei auf den offiziellen Atomrechtssymposien immer wieder festgehalten worden, so die IPPNW.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof bestätigte am Freitag den Eingang der Klagebegründung. Der hessische Umweltminister Wilhelm Dietzel (CDU) war zu einer öffentlichen Stellungnahme gegenüber Medien am Freitag nicht bereit.