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Gesundheitswesen: Der Besuch der alten Dame im Medizinbetrieb

<<ZUM (VER-)ZWEIFELN>>

Juergen BeetzDas ist eine Geschichte, die zum Titel dieser Kolumne passt. Hermine D. ist eine reizende alte Dame im Alter von 96 Jahren. Sie lebt alleine in einem Häuschen in H., wird mit Hilfe von „Pflegestufe 1“ versorgt und ist in der Nachbarschaft gut vernetzt. Ihre 51 kg stemmt sie noch unter Schnaufen die Treppe hoch. Sie sieht schlecht, hört trotz Gerät noch schlechter und ist trotzdem empfindlich gegen grelles Licht und plötzliche Geräusche. Erbmasse der Jahre im Luftschutzkeller des 2. Weltkrieges. Ihr Geist ist wach und sie liebt das Leben, kann sich an Kleinigkeiten freuen. Über die Blumen im Garten, die freundlichen Helfer beim Putzen und in der Seniorenstation. Mit ihrem Rollator durchpflügt sie die Fußgängerzone von H. wie die USS Enterprise den Pazifik. Sie hat schon „Millionenfragen“ bei Jauch aus dem Stegreif beantwortet. Sie kann Gedichte von Schiller auswendig und weiß, dass Goethes „Reineke Fuchs“ in Hexametern geschrieben ist. Sie genießt ihre (wenn auch etwas eingeschränkte) Selbständigkeit. Doch irgendwann fordert das Alter seinen Tribut.

Es beginnt mit „Kopfkrämpfen“, wie sie es nennt. Schmerzen, die ein Stöhnen aus ihr herauspressen. Sie krümmt sich, fällt für Minuten in Ohnmacht. Der Notarzt überweist sie in die A.-Klinik. Der Neurologe diagnostiziert Migräne-Spätfolgen, verschreibt ein Medikament und entlässt sie nach zwei Tagen. Drei Tage später eine neue Attacke. Ein anderer Notarzt überweist sie in die Uni-Klinik. Der Kardiologe diagnostiziert Herzaussetzer, die ihr Gehirn in Alarm versetzen. Ein Schrittmacher wird eingesetzt (Fallpauschale 2.824 €, vielleicht auch 5.091 €). Es kommt zu einer „Komplikation“, wie der Arzt sagt, einer Verletzung des Rippenfells mit anschließendem Lungenkollaps, Pneumothorax genannt. „Kann schon mal passieren bei so alten Patienten“, sagt der Arzt. Eine Drainage wird gelegt, „ein Schlauch quer durch meine Brust“, wie Hermine D. sagt. Sie wird mit ihrem Bett zum Röntgen geschoben und dort in einem dunklen zugigen Kellergang vergessen. Sie leidet unendliche Schmerzen, wird schwächer und schwächer. Eine Freundin besucht sie täglich und versorgt sie liebevoll. Sie kann sie dazu bewegen, ihr die Telefonnummer ihrer Tochter zu geben. Doch sie „will ihr nicht zur Last fallen“.

Vielleicht sieht Hermine D. die Angst in der Augen ihrer Tochter, die die ihre ist: dass sie ein Pflegefall wird.

Ihre Tochter (74) kommt aus Frankreich, wo sie wohnt, alarmiert von den Schilderungen ihrer Freundin. Voller Entsetzen steht sie an ihrem Krankenbett, fasst ihre Hände mit den von Arthrose verkrüppelten Daumen. Das Gesicht ihrer Mutter ist wächsern, sie kann nur noch murmeln. Einzelne Wörter: „Zehn Tage Schmerzen. Keine Kraft… Der Schlauch… Hilf mir. Hilf!“ Dann wird der Schlauch entfernt. Es besteht keine Gefahr mehr. Sie wird in das B.-Krankenhaus verlegt, denn die Uni-Klinik braucht das Bett. Dort kommt sie in ein Dreibettzimmer ohne Toilette. Dafür gibt es einen „Bettstuhl“, ein Stuhl mit eingebautem Nachttopf. Auch hier findet sie keinen Schlaf und keine Kräftigung. Vom Essen im Krankenhaus sagt selbst das Personal, es sei ungenießbar. Den Schmorbraten kann sie nicht kauen, auch wenn der Pfleger ihn in kleine Stückchen schneidet. Die zwei trockenen Brotscheiben am Abend mit Industriewurst bringt sie nicht herunter. Sie mäkelt nicht, sie lärmt nicht, sie verteilt Freundlichkeiten, Dankeschöns und Lob an das überlastete Personal, das ihr eine Kanne Tee eine Stunde nach ihrer Bitte bringt. Die Tochter kocht Hühnerbrühe, bringt Obst und „Astronautennahrung“. „Mein liebes kleines Mädel! So viel Liebe!“, sagt sie bei jedem Besuch und weint. Trotzdem wird sie schwächer. Ihr einst so wacher Geist verwirrt sich immer mehr, wandert in die Vergangenheit. Sie ballt die Fäuste mit den eingefallenen Daumen. Ihre Lippen bewegen sich: „Ich muss, ich muss!“ und dann: „Keine Kraft. Bin leer. Keine Kraft.“ Ihre Freundin, medizinisch vorgebildet, sagt der Tochter: „Sie müssen auf alles gefasst sein!“ Vielleicht sieht Hermine D. die Angst in der Augen ihrer Tochter, die die ihre ist: dass sie ein Pflegefall wird.

In der Nacht findet sie ihre Kraft wieder, für kurze Zeit. Im fahlen Licht der Straßenlaternen, das sie nicht schlafen lässt, schreibt sie einen Zettel: „Nicht reanimieren! Bin alt.“ Später wird er voller Blut sein. Sie nimmt eine Nagelschere und schneidet an ihrem linken Handgelenk durch die welke Haut, auf der Suche nach der Pulsader. Wieder und wieder, kreuz und quer. „Die Halsschlagader habe ich nicht gefunden“, wird sie später sagen, „dann wäre ich erlöst gewesen.“ Die Nachtschwester findet sie beim Routine-Kontrollgang eine Stunde später. Die Klinik hat keine Chirurgie, also wird sie mit Blaulicht in den Uni-Klinik gebracht. Die Schnitte werden genäht, zehn Zentimeter insgesamt. Zurück kommt sie ohne Blaulicht, im Taxi, allein. Die Krankenwagenfahrer streiken, Einsätze sind auf Notfälle beschränkt. Sie ist zwar halbtot, aber kein Notfall mehr. Ich sehe ihn vor mir, den ungedruckten BILD-Aufmacher: „Klinik setzt 96-jährige nach Selbstmordversuch ins Taxi“.

Der ungedruckte BILD-Aufmacher: „Klinik setzt 96-Jährige nach Selbstmordversuch ins Taxi“.

Auf den Anruf am nächsten Morgen ist die Tochter nicht gefasst. Die Ärztin redet um den heißen Brei: „Ihre Mutter hat sich verletzt, aber es geht ihr wieder gut.“ Gemessen am Vorabend stimmt das sogar. Hermine D. entschuldigt sich: „Ich wollte niemandem zur Last fallen…“. Doch nun hat sie einen virtuellen roten Punkt auf der Stirn: „suizidgefährdet“. Sie liegt jetzt auf der Wachstation, die eine Überwachungsstation ist. Zwischen piependen Apparaten und mit stündlicher Kontrolle. Die Tür muss offen bleiben, obwohl sie dadurch keine Ruhe findet. Sie bittet, sie zu schließen. „Sie haben uns schon genug Scherereien gemacht!“, sagt die Nachtärztin und meint es nicht scherzhaft. Die Patientin begreift noch nicht, dass sie für den reibungslosen Betrieb der Klinik verantwortlich ist und nicht die Klinik für ihre Gesundung. Die Fenster werden mit Schlüsseln verschlossen, als Essbesteck gibt es nur Löffel. Die Toilette ist im Wachraum der Männer. Warum sie die Erschöpfung nicht in den Schlaf fallen lässt, kann niemand erklären.

Am nächsten Morgen erfährt die Tochter telefonisch von einem Pfleger: „Sie wird in die Psychiatrie verlegt.“ Panik. Der Anfang vom Ende. Geschlossene Abteilung, Ruhigstellung, Entmündigung. Sie rast in die Klinik. Ihre Mutter ist wach, hat den Tiefpunkt überwunden. Sie sieht ihre Dummheit ein, kann sie selbst nicht mehr verstehen. Der Arzt stellt richtig: „Wir müssen den Stempel ‚suizidgefährdet’ loswerden“. Die Psychiaterin kommt erst am Freitag in die B.-Klinik – so lange soll sie nicht mit dem „roten Punkt“ leben. Es sei am besten, sie führe mit dem Taxi zu ihr in die moderne S.-Klinik, wo sie praktiziert. Diesmal in Begleitung einer Schwester, im Rollstuhl. Zum Laufen ist sie noch zu schwach. Die S.-Klinik ist die modernste der Stadt, in einem Einkaufszentrum (oder umgekehrt?): Messing, Chrom, edler Naturstein. Ihr Rollstuhl hat keine Fußrasten, aber das kräftigt die Oberschenkel. Der Taxifahrer, ein Spezialist der B.-Klinik für Krankentransporte, schiebt sie in rasendem Tempo durch die Gänge. Ihr wird schwindelig, aber er sagt ihr, dass er noch andere Patienten habe. Die Psychiaterin hat keine Zeit für ein ausführliches Gespräch, das beiden zu tieferem Verständnis verholfen hätte. Die chromblitzende S.-Klinik wirft das menschliche Werkstück nach 20 Minuten Bearbeitungszeit wieder aus. Aber der „rote Punkt“ ist gelöscht.

Ihre Tochter sucht das Gespräch mit dem Oberarzt. Er therapiert nur mit Methoden und Medikamenten, die in einer randomisierten doppelblinden placebokontrollierten multizentrischen klinischen Studie Erfolge gezeigt haben. Wider Erwarten versteht die Tochter, was er meint, bittet aber trotzdem, eigene Ideen einbringen zu dürfen. Schließlich hat sie sich Jahrzehnte mit Ernährung und Nährstoffen beschäftigt. „Machen Sie ruhig!“, sagt er, „Wer heilt, hat Recht.“ Also kommen zu Hühnerbrühe & Co. noch Vitamine hinzu, saubere Fette, Naturarzneien jeglicher Art. Die Patientin erholt sich zusehends, körperlich und seelisch. Die Narben bleiben, an ihrem Handgelenk und in ihrer Erinnerung: „Eine Woche habe ich gekämpft, einen Schlauch quer durch meine Brust. Schrecklich. Keinen Schlaf, nur Schmerzen. Ach Gott! Schrecklich!“

Die Narben bleiben in ihrer Erinnerung: „Eine Woche habe ich gekämpft, einen Schlauch quer durch meine Brust. Schrecklich. Keinen Schlaf, nur Schmerzen. Ach Gott!“

Drei Tage später erscheint die Psychiaterin in der B.-Klinik, baut sich von Hermine D. auf und fragt: „Wer bin ich?“ Darauf antwortet sie: „Sie sind die Frau Dr. T. aus der S.-Klinik.“ Die Psychiaterin lächelt und tätschelt ihre Hand. Sie verspricht, sich näher mit ihr zu unterhalten, wenn sie Zeit hat. Ärzte, Schwestern, Pfleger – es sind Menschen. Manche nett, zuvorkommend und freundlich, manche abweisend und unpersönlich. Sie machen alles richtig, nach dem Stand der Erkenntnis, nach Vorschrift, nach ISO 9000. Es sind die kleinen Fehler, die sich summieren. Den Menschen ist kein Vorwurf zu machen. Wem dann?

Ohne Angehörige und Freunde wäre Hermine D. verloren gewesen. Aber nun wird alles gut. Wer heilt, hat Recht – kein sehr intelligenter Spruch, wenn man nicht feststellen kann, wer oder was geheilt hat. Waren es die Ärzte mit ihrer sorgfältig abgestimmten Behandlung? War es die Tochter mit ihrem klug überlegten Angebot an Nährstoffen für den Körper? War es vielleicht Hermine D. selbst mit ihrer Lebensflamme, die ein inneres Beben nur kurz zum Flackern brachte?

Sie hat das Gesundheitssystem überlebt – was ein Wunder ist, denn das ist nicht der Zweck des Systems. Die Drohne „Euro Hawk“ hat angeblich etwa eine halbe Mrd. Euro verschlungen, für nichts. In der Fußgängerzone von H. sitzen die Obdachlosen im Nieselregen. Die alte Dame bekommt zum Abendbrot zwei Scheiben trockenes Graubrot mit Wurst. Wie seit vielen Tagen.

Jürgen Beetz

Namen und Orte sind frei erfunden. Die Geschichte nicht.