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Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt

Dr. Wolfgang Hien

Die Belastungen in der Arbeitswelt für die Psychische nimmt ständig zu. Wolfgang hien hat einiges zu sagenIn den letzten Wochen sahen sich viele Experten, Institutionen und Verbände berufen, Erklärungen und Stellungnahmen zu psychischen Erkrankungen und deren bedrohliche Zunahme abzugeben, so z.B. die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände (BDA) in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Verband der Deutschen Betriebs- und Werksärzte (VDBW), wie auch fast zeitgleich die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Ende des letzten Jahres erschien auch eine Broschüre des Ausschusses für Arbeitsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Die genannten Erklärungen treffen in der Fachwelt und der allgemeinen Öffentlichkeit auf viel Interesse, doch spiegeln sie keinesfalls den Stand der arbeits- und gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse wider.

BDA sieht außerberufliche Ursachen

Der erhebliche Beitrag schlechter Arbeitsbedingungen an diesen Erkrankungen, vorwiegend an Depressionserkrankungen, wird umgangen oder verschwiegen. Stattdessen wird versucht, die Ursachen dieses Anstiegs in den privaten Lebensbereich der Menschen hineinzuverlagern. Zwar stellen auch BDA und VDBW fest, dass psychische Erkrankungen zu einem volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich relevanten Problem geworden sind und die Unternehmen oftmals aufgefordert seien, sich diesem Problem zu stellen.

Doch geht es den Verbänden vordringlich darum, Krankenkassen und Rentenversicherung ins Boot zu holen, um eine betriebsnahe Versorgung und Betreuung Kranker aufzubauen und damit auch Wiedereingliederungen zu verbessern. Das ist zwar zu begrüßen, doch beim genaueren Hinschauen zeigt sich ein äußerst schiefes Bild der Realität.

Dass es den Arbeitgebern nicht wirklich um eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse geht, zeigt die Äußerung des Hauptgeschäftsführers der BDA, Andreas Gunkel: Allen müsse klar sein, dass psychische Erkrankungen „meist maßgeblich durch außerberufliche Umstände bedingt“ seien. Zu Problembearbeitung und Problemlösung sei deshalb „die Eigeninitiative der Betroffenen“ erforderlich. Die Erklärung der Deutschen Depressionshilfe bläst ins gleiche Horn. Zwar wird das Modewort Burnout zurecht kritisiert und klargestellt, dass sich dahinter sehr oft eine schwere Depression verbirgt, die keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden darf. Doch lenken die Autoren, Prof. Ulrich Hegerl (Uni Leipzig) und Dr. Christine Rummel-Kluge (Stiftung Deutsche Depressionshilfe) den Blick sehr schnell ins Private: Partnerschaftskonflikte, Verlusterlebnisse oder schlicht das Lebensgefüge in seiner Schicksalhaftigkeit seien verantwortlich, denn, so stellen die Autoren fest: „Bei zahlreichen Menschen mit einer depressiven Episode ist beim besten Willen kein bedeutsamer Auslöser festzustellen.“

So nimmt es nicht Wunder, dass die Arbeitswelt sodann als Heilsbringer ins Spiel gebracht wird. Statt langer Krankschreibungen und „grübelnd zu Hause im Bett (zu) liegen“ sollten depressiv Erkrankte recht bald wieder zur Arbeit geschickt werden. Durch den strukturierten Arbeitsrhythmus und die Einbindung in die Arbeitsabläufe würden die Betroffenen stabilisiert, so Hegel und Rummel-Kluge. In bestimmten Fällen kann eine solche Herangehensweise durchaus sinnvoll sein. In der überwiegenden Zahl der Fälle aber ist eine solche „Lösung“ kontraproduktiv. Die Betroffenen würden nämlich in genau die Verhältnisse zurückgebracht, die sie krank gemacht haben.

Selbstredend gilt es, den Genesenden wieder ein normales Leben zu ermöglichen und sie wieder, wenn sie dies wollen, in die Arbeitswelt hineinzuführen. Und die allermeisten wollen dies. Doch muss dann auch viel für eine entsprechende Gestaltung oder Umgestaltung der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsaufgaben, der Arbeitsabläufe und der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz getan werden. Dieser Punkt wird in der Empfehlung des Ausschusses für Arbeitsmedizin durchaus betont. Dennoch bleibt auch hier die Erörterung der Ursachen weit hinter dem internationalen Erkenntnisstand zurück.

Hohe Arbeitsbelastungen machen krank

Die Stand der gesicherten arbeits- und gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse ist eindeutig: Hohe Arbeitsbelastungen, gepaart mit geringem Handlungsspielraum, geringer Anerkennung und fehlender sozialer Unterstützung am Arbeitsplatz, machen krank, ebenso wie hoher Leistungsdruck bei gleichzeitig hoher Job-Unsicherheit. Psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionserkrankungen, haben in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung gewonnen. Derartige Erkenntnisse sind Resultat großer epidemiologischer Studien.

Die Epidemiologie versucht herauszufinden, um wie viel mal höher bei Belasteten – im Vergleich zu Nichtbelasteten – die Krankheitshäufigkeit ist, ausgedrückt im „Relativen Risiko“ (RR). Wenige Beispiele mögen genügen. So wurde in einer Studie, die von einer Forschungsgruppe der Universität Gent durchgeführt wurde (Clays et al. 2007), 2.800 Erwerbspersonen in einem Zeitraum von knapp sieben Jahren untersucht. Personen, die zum ersten Untersuchungszeitpunkt hohe Anforderungen und geringen Handlungsspielraum hatten, d.h. Personen mit hohem Job-Stress, trugen ein etwa 1,6-faches Risiko, während der nächsten Jahre eine schwere Depression zu erleiden, wobei bei anhaltenden Belastungen das Risiko auf 3,2 anstieg; kam ein fortgesetzter Mangel an sozialer Unterstützung hinzu, so stieg das Risiko weiter auf 5,8. Mit anderen Worten: Lang anhaltender „isolierter Job-Stress“ schraubt bei ursprünglich gesunden Personen das Depressionsrisiko – im Vergleich zu weniger belastenden Personen – auf das fast sechsfache hoch. In der Studie wurden die gefundenen relativen Risiken gegengerechnet für Geschlecht, Familienstand, negativer Affektivität, Tod eines nahen Verwandten und Vorerkrankungen im Kindesalter, doch die Arbeitswelt-Risiken blieben. Darüber hinaus ist belegbar, dass unsichere Arbeitsverhältnisse und Angst um den Arbeitsplatz ebenfalls als starke Risikofaktoren für psychische Erkrankungen betrachtet werden müssen.

Der Londoner Psychiatrie-Epidemiologe Stephen Stansfeld hat in den letzten Jahren mit einer internationalen Arbeitsgruppe die für die Entstehung psychischer Erkrankungen verantwortlichen Faktoren in mehreren sehr sorgfältigen Großstudien systematisch untersucht. Es wurde sehr streng zwischen arbeitsbezogenen und privaten Ursachen unterschieden. Die Ergebnisse sind hoch interessant (Clark et al. 2011): Die bekannten Arbeits-Stressoren erwiesen sich erneut als starke Risikofaktoren, zugleich aber zeigten auch private Einflüsse wie z.B. Scheidung, häusliche Gewalt, finanzielle Krisen oder private Pflegearbeit ein Risikopotential. Entscheidend war, dass beide Bereiche auch nach dem gegenseitigen Gegenrechnen als unabhängige Risikofaktoren bestehen blieben. Auch wenn psychische Vorerkrankungen im Kindesalter berücksichtigt wurden, verschwanden die arbeitsbezogenen Risiken keineswegs (Stansfeld et al. 2008).

Eine gerade veröffentlichte Studie, die von JiangLi Wang, Psychiater und Gesundheitswissenschaftler an der Universität Calgary, geleitet wurde, kann zeigen, dass Faktoren der Arbeitswelt in einem deutlich höherem Maße ursächlich zur Häufigkeit depressiver Erkrankungen beitragen als familiärer Status und familiäre Konflikte (Wang et al. 2012). Hoher Job-Stress erhöht das Depressionsrisiko um das 2,9-fache, ein Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Anerkennung erhöht das Depressionsrisiko um das 2,8-fache. Auch Konflikte zwischen Arbeit und Familie wirken sich krankheitsverstärkend aus. Die Autoren sehen in größeren Handlungsspielräumen bei der Arbeit, in mehr Anerkennung durch Vorgesetzte und mehr Berücksichtigung familiärer Bedürfnisse bei Arbeitszeit und Arbeitsplanung Faktoren, die zur Verminderung psychischer Erkrankungen beitragen können.

Ähnliche Studien wurden vor allem in den skandinavischen Ländern, aber auch in Großbritannien, in Deutschland und in Osteuropa durchgeführt – alle mit ähnlichen Ergebnissen. Auch in methodisch sehr streng angelegten Längsschnittstudien bleibt die Bedeutung der Arbeitsfaktoren erhalten. In der epidemiologischen Fachwelt gibt es keinen Zweifel daran, dass die globalisierte, flexibilisierte und unsicher gewordene Arbeitswelt für den Anstieg der psychischen Erkrankungen verantwortlich gemacht werden muss. Als besonders belastend gelten atypische Beschäftigungsverhältnisse wie befristete Verträge und Leiharbeit. Hier tragen die Beschäftigten ein deutlich höheres Risiko, an Depression zu erkranken als in festen Arbeitsverhältnissen.

Führende VertreterInnen der Arbeitsmedizin und Psychiatrie offenbaren eine nicht zu rechtfertigende Unkenntnis der arbeitsbezogenen epidemiologischen Studienlage. Stattdessen wird auf neurowissenschaftliche Modelle zurückgegriffen, in denen die biologische Disposition, d.h. letztlich: die Schicksalhaftigkeit, hervorgehoben wird. Gewerkschaften und gewerkschaftlich orientierte WissenschaftlerInnen sollten hier deutlicher Stellung beziehen und die Vorstöße der Individualisierungsstrategen zurückweisen.

Wir brauchen wieder Luft zum Atmen

Die durchrationalisierten und durchkalkulierten Betriebsabläufe haben uns die Luft zum Atmen genommen und uns frostige Kälte ins Arbeitsleben gebracht. Die Versprechungen der schönen neuen Arbeitswelt entpuppen sich immer mehr als kalte Sozialtechniken zur Leistungssteigerung. Die Folgen bleiben nicht aus: Enttäuschung, Erschöpfung, Verbitterung, Verzweiflung und ein Absinken in Zustände der Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Um Missverständnissen vorzubeugen: Solche Gefühle gehören zum Menschsein, und jeder und jede von uns kennt Phasen der Traurigkeit und Verzweiflung. Selbstverständlich ist der gesamte Lebensprozess auch mit Hürden bestückt, die wir überwinden oder auf andere Art meistern müssen. Und in solchen Phasen haben uns oftmals Kollegen und Kolleginnen geholfen, darüber hinwegzukommen. Ihre soziale Unterstützung war wichtig. Doch genau diese Möglichkeiten, diese Unterstützung, gehen in der Arbeitswelt verloren. Das zeigen die Studien, das zeigen uns auch die alltäglichen Erfahrungen im Betrieb. Erschreckend ist der Versuch der BDA, des VDBW und der Deutschen Depressionshilfe, die bestehenden arbeits- und gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse zur Arbeitsbedingtheit psychischer Erkrankungen zu umgehen und zu verschweigen.

Unabhängig davon, ob dies nun Unkenntnis oder Absicht geschuldet ist, spiegelt sich darin eine ärgerliche Arbeitgeberlastigkeit und eine dem wirtschaftsliberalen Denken verpflichtete ideologische Verfangenheit. Der Mensch hat sich in einem solchen Denken den Gegebenheiten der Ökonomie anzupassen. Wer diese Anpassungsleistung nicht erbringt, nicht erbringen kann oder nicht erbringen will, dem wird Krankheit attestiert. Das Verwerfliche daran ist, dass der oder die Betroffene damit zugleich abgewertet, diskriminiert und stigmatisiert wird - und dies mit dem Segen medizinischer oder psychotherapeutischer Expertise.

Einmal mehr zeigt sich, dass Expertenmeinungen nicht wertfrei sind und, zumindest wenn es um Praxisempfehlungen geht, auch gar nicht wertfrei sein können und sollen. Es geht vielmehr darum, über Werte zu sprechen, zu diskutieren und zu streiten. Es geht darum, die Wirtschafts- und Arbeitswelt wieder dem Menschen anzupassen und Bedingungen zu schaffen, in denen der Mensch seine seelische Gesundheit wahren oder wiederherstellen kann.

Die Arbeitswelt gewinnt genau dann eine gesundheitsfördernde Funktion, wenn die Arbeitenden nicht nur als Funktionen und Kostenfaktoren gesehen werden, sondern als Menschen mit dem Bedürfnis nach sozialen Bindungen, nach sozialer Anerkennung und nach menschlichem Miteinander. Entgrenzung und Maßlosigkeit durchdringen immer mehr die Beschäftigten selbst. Eine Umkehr ist dringend nötig. Jeder Einzelne muss wieder Achtsamkeit lernen, sich selbst und anderen gegenüber. Keine übersteigerten Forderungen an sich und andere! Abschied nehmen von Überidentifikation, Perfektionismus und krankem Ehrgeiz! Sich Lebensbereiche außerhalb der Arbeit aufbauen, aus denen sich Kraft und Zuversicht gewinnen lassen! Unternehmen, Verwaltungen und Einrichtungen müssen einsehen, dass die übertriebene Wirtschaftlichkeitslupe, mit der jeder Einzelne betrachtet wird, letzten Endes kontraproduktiv ist. Denn: Viele Potentiale bilden sich erst im Netzwerk sozialer Beziehungen, in dem der Schnelle, der viele Fehler macht, und der Langsame, der diese Fehler ausbügelt, sich ergänzen. Es sind die sozialen Beziehungen, in denen genau deshalb Lerneffekte entstehen, auch Lerneffekte eines guten Umgangs miteinander und mit sich selbst in unvermeidlichen Stress-Situationen. Gnadenloser Druck zerstört diese Potentiale, bevor sie überhaupt entstehen oder sich entfalten können. Er zerstört nicht nur Potentiale, sondern beschädigt auch nachhaltig unsere Seele.

Eine auf Beschleunigung, Egoismus und Rücksichtslosigkeit aufgebaute Arbeitswelt übersteigt die Möglichkeiten des Menschen. Diesen an eine derart verrückt gewordene Arbeitswelt anpassen zu wollen, wird scheitern. Umgekehrt gilt es, die Arbeitswelt wieder menschlicher zu machen. Viele unserer ArbeitsmedizinerInnen, PsychiaterInnen und TherapeutInnen trauen sich nicht, diesen neuralgischen Punkt klar und deutlich auszusprechen, obwohl sie längst ahnen, dass es so nicht weitergehen kann.

Dr. Wolfgang Hien

Literatur

Clark, C. et al.: “The contribution of work and non-work stressors to common mental disorders in the 2007 Adult Psychiatric Morbidity Survey”, in: Psychological Medicine, Sep 6:1-14/2011, (Epub ahead of print)

Clays, E. et al..: “Job stress and depression symptoms in middleaged workers – prospective results from the Belstress study”, in: Scandinavian Journal of Work, Environment and Health, Band 33, 2007, S. 252-259

Stansfeld, S. et al.: “Psychosocial work characteristics and anxiety and depressive disorders in midlife: the effects of prior psychological distress”, iIn: Occupational and Environmental Medicine, Band 65, 2008, S. 634-642

Wang, J. et al.: “Three job-related stress models and depression: a population-based study”, in: Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, Band 2, 2012, S. 185-193

Die Veröffentlichung erfolgte mit Einverständnis der Gegenblende.de