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Afghanistan: Frieden mit Taliban möglich

Afghanischer Stammesführer im Interview

Die Zusammenarbeit der Bundeswehr und der ISAF mit irregulären Milizen in Afghanistan gerät in den Focus der Öffentlichkeit. Auf drei Seiten berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 12. Februar 2012 zu diesem Thema. ngo-online fragte Naqibullah Shorish, den nationalen Stammesführer des größten afghanischen Stammes der Kharoti nach den Gefahren der irregulären Milizen und nach notwendigen Konsequenzen für einen Friedensprozess. Shorish unterhält Kontakte zu allen Konfliktparteien, auch zur Taliban-Führung um Mullah Omar.

Afghanischer Stammesführer: Ein Frieden mit den Taliban ist möglich

ngo: Herr Shorish, wie sehen Sie den Aufbau von Milizen in Afghanistan?

Naqibullah Shorish: Der Aufbau von zersplitterten und möglicherweise untereinander verfeindeter Milizen ist hochgefährlich. Er ist Gift für jeden Friedensprozess und er kann nur als Vorbereitung für einen Bürgerkrieg verstanden werden, den die Afghanen nicht wollen.

Wer einen ernsthaften Friedensprozess will, der muss an den Verhandlungstisch kommen, damit Lösungen gefunden werden, die ein Ende des gegenseitigen Tötens und eine friedliche Entwicklung Afghanistans sicherstellen. Die Taliban sind grundsätzlich zu Friedensgesprächen bereit, der Westen zögert. Ein Waffenstillstand wäre zur gegenseitigen Vertrauensbildung wünschenswert, auch wenn er vielleicht zunächst nur in einzelnen Regionen realisiert wird.

Es gab 2009 die Bereitschaft der Quetta-Shura, der Taliban-Führung um Mullah Omar, mit einem solchen Waffenstillstand in der Region Kundus zu beginnen und diesen dann auf weitere Regionen und das ganze Land auszudehnen. Leider war die NATO trotz positiver Signale am Ende dazu nicht bereit.

Im Sommer 2010 habe ich an Treffen von ISAF-Offizieren und hohen Taliban-Führern in Kabul teilgenommen. Damals schien eine Friedenslösung in erreichbare Nähe zu rücken. Als Übergangslösung sollte eine Provinz gemeinsam von Vertrauensleuten der Taliban und der Karsai-Regierung verwaltet werden. Dabei wären wichtige Erfahrungen für einen Versöhnungsprozess im ganzen Land gesammelt worden. Leider hat ISAF diese Gespräche im Oktober 2010 abgebrochen.

ngo: Werden die Taliban die Regierung Karsai anerkennen?

Naqibullah Shorish: Die Taliban haben immer wieder deutlich gesagt, dass sie die Regierung Karsai nicht anerkennen, sondern als Marionettenregierung betrachten. Wenn es vor dem Abzug der ISAF-Truppen keine von allen Konfliktparteien akzeptierte Übergangsregierung gibt, wie ich sie in meinem Friedensplan vorgeschlagen habe, dann werden die Taliban wohl weiterkämpfen.

Die Taliban diskutieren gegenwärtig sehr intensiv meinen Friedensplan, nicht nur auf der Führungsebene, sondern auch in den Distrikten mit den Schattengouverneuren und Kommandeuren. Im Grundsatz wird mein Friedensplan wohl einschließlich der vorgeschlagenen Übergangsregierung von ihnen akzeptiert. Nur der Westen tut sich schwer damit.

ngo: Was wird passieren, wenn es keine Friedenslösung gibt, sondern am Ende eine Machtübernahme der Taliban?.

Naqibullah Shorish: Interessant ist, dass es in den letzten Jahren deutliche Positionsveränderungen bei den Taliban gegeben hat. Selbst wenn sie allein an die Macht kommen, wird es wohl nicht mehr so zugehen wie vor 2001. Sie haben zugesichert, dass die Sicherheit der Bürger gewährleistet sein soll und ebenso die Rechte der nationalen Minderheiten. Frauen und Mädchen sollen zur Schule gehen, ihren Beruf ausüben und sich auch politisch betätigen dürfen.

ngo: Sind die Taliban durch die Offensiven der ISAF in den letzten zwei Jahren so geschwächt worden, dass sie nicht mehr zu großen Angriffen in der Lage sind? Müssen Sie jetzt Zugeständnisse machen?

Naqibullah Shorish: Die Taliban haben gerade auch in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, dass sie trotz hoher Verluste in der Lage waren, die Lücken mit neuen Kämpfern aufzufüllen und ihre Strategie und Taktik flexibel zu wechseln. Dort, wo die USA und ISAF mit großen Kontingenten auftreten, weichen sie aus und greifen andernorts an. Afghanistan ist so groß, dass die USA und ISAF nicht überall mit großen Kontingenten vertreten sein können.

Ich halte die Strategie der ISAF, Taliban-Führer gezielt zu töten, für äußerst gefährlich. Getroffen werden damit erfahrene Kommandeure, die wissen, dass Afghanistan dringend ein Ende der Kämpfe und einen Friedensprozess braucht. Diese Kommandeure wären in der Lage, eine mit der Taliban-Führung um Mullah Omar vereinbarte Friedenslösung auch vor Ort durchzusetzen. Ob junge Heißsporne, die nachrücken, dazu in der Lage sind, weiß ich nicht.

ngo: Werden die Taliban die Herzen und Köpfe der Menschen in Afghanistan gewinnen können?

Naqibullah Shorish: Angesichts der Unbeliebtheit der Karsai-Regierung, der vorherrschenden Korruption und Straffreiheit für verbrecherische Warlords haben es die Taliban nicht schwer, Herzen und Köpfe der Menschen vor Ort zu gewinnen. Wenn Afghanistan nicht den Taliban überlassen werden soll, dann brauchen wir jetzt schnellstens eine Übergangsregierung, die sie mit einbindet gemeinsam mit den anderen politischen Kräften. Garanten für die Einheit des Landes sollten die Stammesführer sein. Sie haben während der Kriege die Einheit ihrer Stämme bewahrt, obwohl Stammesangehörige auf unterschiedlichen Seiten kämpften. Sie sind in der Lage, auch die Einheit des Landes zu bewahren.

Das Interview führte Otmar Steinbicker, www.aixpaix.de