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Ehemaliger Wissenschafts-Staatssekretär argumentiert gegen Studiengebühr-Urteil

Studierende fordern "Luxus für alle"

Der ehemalige Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerium NRW, Dr. Wolfgang Lieb, hat kritisiert, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts "weniger ein juristisches, sondern eher ein politisches Urteil" sei. Ein politisches Urteil, weil es sich die Position der CDU-regierten Länder in der Föderalismuskommission zu eigen mache und dem Bund nahezu jede Zuständigkeit in der Bildungspolitik abspreche. Von der Rahmenkompetenz des Bundes bleibe nur noch ein "Rahmen ohne Kompetenz", so Lieb. Politisch sei das Urteil weiterhin, weil es das aus der Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz in Verbindung mit dem Recht auf freie Berufswahl nach Artikel 12 und dem Sozialstaatsprinzip nach Artikel 20 abgeleitete Recht auf freien Zugang zu einer Hochschulausbildung bei allen Abwägungen "komplett ausblendet". Darüber hinaus seien im Urteil alle Argumente für das "Erfordernis" einer bundesgesetzlichen Regelung der Gebührenfreiheit ohne jede Begründung negiert worden. Hingegen seien die Verfassungsrichter allen Behauptungen und Annahmen der Gebührenbefürworter kritiklos gefolgt.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in der vergangenen Woche das bundesweite Verbot von Studiengebühren gekippt und es den Bundesländern überlassen, über die Einführung von Gebühren zu entscheiden. Nun wollen einige Länder Studiengebühren einführen.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Bestimmung der Gebührenfreiheit in § 27 Abs.4 Hochschulrahmengesetz nichtig ist, hat nach Auffassung von Lieb "die bisherige Wertentscheidung über die gesellschaftspolitische Einordnung eines Studiums in Deutschland grundlegend revidiert". Eine Hochschulausbildung werde nicht mehr - wie es seit der "Bildungskatastrophe" der sechziger Jahre allgemeiner gesellschaftlicher Konsens gewesen sei - "als ein gemeinnütziges öffentliches Gut betrachtet, dessen Förderung eine öffentliche Aufgabe ist, sondern als ein privates Gut, als eine Ware angesehen, für die ein Preis verlangt oder eine private Investition erwartet werden kann."

Lieb: Verfassungsrichter kippten einen "allgemeinen hochschulpolitischen Grundsatz"

"Wenn sogar ein derart grundlegender Paradigmenwechsel in der Hochschulpolitik nicht die Einheitlichkeit des Rechts auf Bildung nach Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes berührt und keine Rahmenzuständigkeit für den Gesamtstaat begründen kann", so Lieb, "dann bleibt für den Bund nur noch ein Rahmen ohne Bild".

Die Karlsruher Richter könnten nicht leugnen, dass mit der Entscheidung, "dass seit dem Jahr 1970 keine allgemeinen Studiengebühren erhoben werden", ein "allgemeiner hochschulpolitischer Grundsatz fixiert" worden sei. Nach Auffassung des ehemaligen Staatssekretärs gaben die Verfassungsrichter diesen "Grundsatz" der damaligen Hochschulreform "ohne weitere Abwägungen preis", indem sie dem wohlfeilen Argument folgten, dass Studiengebühren den Hochschulen eine dringend notwendige zusätzliche "Einnahmequelle" verschafften.

Die Unterfinanzierung der Hochschulen und der Spitzensteuersatz

Die Frage, warum es zu einer Unterfinanzierung der Hochschulen gekommen ist, werde völlig außen vor gelassen. "Dass hinter der Sparpolitik der öffentlichen Hände eine politische Wertentscheidung steht", so Lieb, "dass allein mit dem Verzicht auf die Senkung des Spitzensteuersatzes ein Mehrfaches an Einnahmen erzielt werden könnte als mit der Einführung der Studiengebühr, das wird nicht zur Kenntnis genommen."

Ehemaliger Kanzleramtsmitarbeiter Lieb kritisiert "neoliberalen Mainstream"

Lieb, der bis zum Jahr 2000 nicht nur Wissenschafts-Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen war, sondern zuvor auch Mitarbeiter in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes und Öffentlichkeits-Chef unter Ministerpräsident Johannes Rau, wendet sich radikal gegen die derzeitige "Reformpolitik": "Das politische Credo des neoliberalen Mainstreams, das da lautet, Steuern senken, staatliche Verantwortung zurückdrängen, öffentliche Leistungen privatisieren, wird von den Richtern nun auch zur Grundlage ihrer Rechtsauslegung erhoben."

Wie schon beim Urteil über die Juniorprofessur ergreife die Mehrheit der den Unionsparteien nahestehenden Richter des Zweiten Senats Partei für die vor allem von den CDU-Ministerpräsidenten in der Föderalismuskommission vertretene Position, dass der Bund in der Bildungspolitik zu einer "außerordentlich zurückhaltenden Gesetzgebung verpflichtet" sei und leiste "damit – paradoxerweise - im Zeitalter der Internationalisierung der Hochschulausbildung der hochschulpolitischen Kleinstaaterei weiter Vorschub. Von der Rahmenkompetenz des Bundes bleibt nur noch ein Rahmen ohne Kompetenz", meint Lieb.

Lieb: Gericht ignorierte Grundrechte, das Sozialstaatsgebot sowie internationalen Pakt

Da die Richter in der Einführung der Studiengebühr keine bildungspolitische Grundsatzfrage des Hochschulwesens mehr sähen, "sondern eben nur noch eine Frage nach der Erschließung einer zusätzlichen Einnahmequelle für die Hochschulen", können sie nach Auffassung von Lieb "das Grundrecht auf Bildung, die Grundsätze der Freiheit der Berufswahl oder gar das Sozialstaatsgebot - alles konstituierende Begründungen für die Studiengebührenfreiheit von Verfassungsrang - ja auch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, locker beiseite schieben".

Lieb kritisiert die Aussage der Verfassungsrichter, wonach es „auf die bildungspolitische Einschätzung der Erhebung allgemeiner Studiengebühren und des dazu vorgelegten Materials" nicht ankomme. Lieb: "Gebühren-Geld macht eben sinnlich und das Geld blendet 'Justitia' offenbar so sehr, dass sie meint, auf das Tuch vor ihren Augen - will sagen, auf ihre Unabhängigkeit und Neutralität gegenüber den vor Gericht stehenden Parteien - verzichten zu können."

Lieb: Verfassungsrichter verzichteten auf eine "juristische Begründung"

Letztlich habe das Gericht seine Entscheidung darauf gestützt, so Lieb, dass die Normierung der Studiengebührenfreiheit im Hochschulrahmengesetz nicht "erforderlich" sei, um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik zu wahren.

Die Art und Weise, wie die Überprüfung der "Erforderlichkeit" erfolgt, ist für den ehemaligen Staatssekretär "mehr als ärgerlich". Sie entbehre "jeglicher juristischen Begründung" und folge "ausschließlich politischer Wertung".

Stattdessen: "Spekulative Annahmen und unbewiesene Behauptungen"

Die Richter hätten darüber hinaus jeden empirischen Hinweis und jedes ernst zu nehmendes Argument für die Studiengebührenfreiheit "mit spekulativen Annahmen und unbewiesenen Behauptungen" abgebügelt, so als gehe es von vornherein nur noch darum, den Befürwortern der Studiengebühren und ihren ideologischen Begründungen "den Weg frei zu machen".

"Karlsruhe macht den Weg für Studiengebühren frei, so lauten denn auch die triumphierenden Schlagzeilen von SPIEGEL und ZDF."

Lieb: Verfassungsrichter sehen keine "hinreichenden Anhaltspunkte"

Ob - so das Verfassungsgericht - die Einführung von Studiengebühren, wie der Bundesgesetzgeber meine, "zu einer Verunsicherung derjenigen führe, die in den nächsten Jahren ein Studium aufnehmen wollten", was in letzter Konsequenz zu einem Rückgang der Zahl der Studienanfänger führen könne, ob die "Festschreibung der Gebührenfreiheit Rechtssicherheit" schaffe und die "Studierneigung für das ganze Bundesgebiet" unterstütze, ob damit "bildungsferne Bevölkerungskreise an das Hochschulstudium herangeführt" werden könnten, für alle diese Argumente – so das Urteil - "bestehen jedoch zurzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte".

Dazu Lieb: "Das behaupten die Richter einfach so, ohne dass sie sich auch nur die geringste Mühe machten, auch nur ein einziges Gegenargument zu nennen." Was jede Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks seit Jahren empirisch erhärte, nämlich dass für die überwiegende Anzahl der Studierenden vor allem aus Kostengründen sowohl für die Wahl des Studienortes als auch für die grundsätzliche Entscheidung, überhaupt zu studieren, die "Heimatnähe" der Hochschule von großem Gewicht sei, das sei für "unsere" Karlsruher Richter "nicht ohne weiteres einschätzbar".

Ex-Staatssekretär beklagt "Oberschicht-Denken" und sieht 500 Euro als "Einstiegsdroge"

"Sehr wohl meinen die Richter", so Lieb, "dagegen einschätzen zu können, dass 'Studiengebühren in der bislang diskutierten Größenordnung von 500 Euro je Semester im Vergleich zu den ...Lebenshaltungskosten von nachrangiger Bedeutung sind.' Das nenne ich schlicht ein die Lebenswirklichkeit der Unter- und Mittelschichten verweigerndes 'Oberschicht-Denken'." Zumal man keine prophetische Gabe haben müsse, um vorher zu sagen, "dass die derzeit gehandelten 500 Euro nur eine Einstiegdroge sind".

Obwohl es schon konkrete Schubladengesetze zur Einführung von Studiengebühren in mehreren Ländern gebe, hingegen noch kein einziges durchdachtes, geschweige denn durchfinanziertes Fördermodell, das "bei einer Einführung von Studiengebühren den Belangen einkommensschwacher Bevölkerungskreise angemessen Rechnung trägt", meinten die Richter ohne jede weitere Auflage "davon ausgehen" zu können, dass die Länder die geeignete Regelungen schon schaffen würden. "Das ist blauäugiger Optimismus, aber keine Juristerei."

Bundesverfassungsgericht: "freie Wahl der Ausbildungsstätte"

Auch der von der Bundesregierung angeführte Umstand, das nach Einführung von Langzeitstudiengebühren in Hessen im Sommersemester 2004 rund 1400 Studierende hauptsächlich von hessischen Hochschulen an die Universität Mainz gewechselt seien, habe die Richter nicht erschüttert. Sie verwiesen dazu nur ziemlich zynisch darauf, dass "Verschlechterungen der Studienbedingungen an einzelnen Hochschulen ... die freie Wahl der Ausbildungsstätte" schließlich nicht einschränke und verließen sich auf "die nahe liegende Annahme", dass die mit der Überbelegung von Hochschulen ohne Studiengebühr "verbundenen Qualitätsverluste regulierend auf des Verhalten der Studierenden" einwirke und sich dadurch binnen kurzem wieder eine ausgewogene Inanspruchnahme der Hochschulen einstelle. "Empirische Sachverhalte", so Lieb "werden also mit ziemlich studierendenverachtenden hypothetischen Betrachtungen, dass sich das alles von selbst regelt, aus der Welt geräumt." Die "invisible hand" lasse grüßen.

Gericht: "Keine Gefahr für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse"

Lieb kritisiert weiterhin die Auffassung der Verfassungsrichter, wonach die jetzt schon vorhersehbare "Erwägung, dass durch die Entscheidung einzelner Länder allgemeine Studiengebühren zu erheben, die anderen Länder ... politisch gezwungen sein könnten, ebenfalls Studiengebühren einzuführen" keine Gefahr für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse aufzeige.

Auch hier bemängelt Lieb, dass die Verfassungsrichter keines der Argumente entkräften würden, sondern diese allenfalls "mit spekulativen und hypothetischen Behauptungen der Gebührenbefürworter" abbügeln würden.

Lieb: millionenschwere PR-Aktion von Bertelsmann und Stifterverband

"Die gesamte Urteilsbegründung könnte auch aus den Broschüren der wichtigsten PR-Agentur für die Einführung der Studiengebühren, dem Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung entnommen sein", meint der ehemalige Staatssekretär. Das gelte bis hin zu der Behauptung, dass Studiengebühren die Chance eröffneten, "die Qualität der Hochschulen und eine wertbewusste Inanspruchnahme ihrer Ausbildungsleistungen zu fördern und auf diese Weise auch Ziele der Gesamtwirtschaft zu verfolgen." Lieb: "Um die Ziele der 'Gesamtwirtschaft' und nicht mehr um die Förderung der wissenschaftlichen Ausbildung geht es also?"

"Man kann", so Lieb, "dieses juristisch furchtbare Urteil mit einem Satz bewerten: Die millionenschweren Investitionen in die Propagierung von Studiengebühren von INSM, von Stifterverband der Wirtschaft oder von der Bertelsmann-Stiftung haben sich gelohnt." Ihre andauernde "pseudoökonomische Propaganda" für Studiengebühren habe sich im Laufe der letzten Jahre in weiten Teilen der Politik und den Medien durchgesetzt. Mit Blick auf Bertelsmann: "Die Betriebswirte vom Centrum für Hochschulentwicklung aus Gütersloh haben jetzt eben auch in Karlsruhe gewonnen."

Dass mit diesem Urteil noch die "verfasste Studierendenschaft" abgeschafft wurde, passt für Lieb in das Bild, dass der künftige Student als zahlender "Kunde" zum "König" werde und deshalb keine demokratische Mitbestimmung mehr nötig habe.

Studierende fordern "Luxus für alle"

Unterdessen demonstrierten am Donnerstag Tausende Studierende gegen die Einführung von Studiengebühren. Rund 5000 Studenten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen waren es in Leipzig. "Die Gefahr der Einführung von Studiengebühren ist insgesamt nicht gebannt, auch wenn die sächsische Regierung derzeit davon absieht", sagte Sven Kummer von der Konferenz Sächsischer Studierendenschaften (KSS) am Donnerstag in Leipzig. Man werde die Landesregierung beim Wort nehmen und keine Form der Gebühren hinnehmen, hieß es. Studenten aus Dresden, Chemnitz, Freiburg, Halle, Magdeburg und Jena beteiligten sich an den Protesten. Die Leipziger Proteste sind Teil des bundesweiten Aktionstags gegen Studiengebühren. Auch in Hamburg, Berlin, Mannheim und Essen gingen Studenten auf die Straße.

In Berlin standen die Demonstration so unter dem Motto "Lernen ist Luxus – Luxus für alle". Björn Kietzmann aus der Vorbereitungsgruppe sagte: "Da Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheitsvorsorge und die soziale Grundsicherung überall zu Luxusgütern gemacht werden, wollen wir dem entgegen treten und fordern: Luxus für Alle!"

Dem schloss sich Marcel Winter, Vertreter des AStA an der Universität Duisburg-Essen an: "Studiengebühren stellen nur einen weiteren Schritt in der Politik zunehmender sozialer Spaltung und Ausgrenzung dar. Deshalb werden wir im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen in den kommenden Monaten unseren Widerstand gegen diese Politik verstärken."

In Mannheim ging es den Studierenden neben dem Protest gegen Studiengebühren vor allem um kollektive Mitbestimmungsrechte. Natascha Massing vom AStA der Universität Mannheim: "Mit dem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Gebührenverbot kassiert, sondern auch die Absicherung der studentischen Interessenvertretung. Studierende brauchen eine starke und unabhängige Interessenvertretung, an jeder Hochschule und in jedem Bundesland."