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Klagen und verfassungsrechtlicher Diskurs über Köhlers Entscheidung

Begründung "äußerst mager"

Die ersten gegen vorgezogene Neuwahlen gerichteten Klagen sind am Freitag beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingegangen. Es handele sich um Verfassungsbeschwerden der Partei "Pro Deutsche Mitte" sowie der "Anarchistischen Pogo Partei Deutschlands" (APPD), sagte Gerichtssprecherin Dietlind Weinland. Beide Splitterparteien wenden sich dagegen, dass ihnen nun nicht mehr genügend Zeit bleibe, um das erforderliche Unterschriftenquorum für die Teilnahme an der Bundestagstagswahl am 18. September zu erreichen. Verfassungsexperten diskutieren derweil darüber, ob die Auflösung des Bundestages durch Bundespräsident Horst Köhler verfassungsrechtlich zulässig war.

Die "Anarchistischen Pogo Partei Deutschlands" (APPD), argumentiert, dass sie bei einer regulären Wahl über 13 Monate für das Sammeln der geforderten 30.000 Unterschriften zur Verfügung gehabt hätte und dies nun binnen zwei Monaten schaffen müsse.

Verfassungsbeschwerden wurden vor diesem Hintergrund auch von der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) und von der Tierschutzpartei angekündigt.

Die Organklagen der Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD) werden in der nächsten Woche in Karlsruhe erwartet.

Durfte Bundespräsident Köhler den Bundestag auflösen?

Verfassungsexperten diskutierten am Freitag darüber, ob die Auflösung des Bundestages durch Bundespräsident Horst Köhler verfassungsrechtlich zulässig war.

Der frühere Verfassungsrichter Hans Hugo Klein hält die Entscheidung Köhlers für richtig. Der Bundespräsident habe dargelegt, dass Schröder mit einem zu geringen Rückhalt in den Koalitionsfraktionen nicht weiter regieren könne, sagte er.

Der Mannheimer Staatsrechtler Wolf-Rüdiger Schenke sagte hingegen, das Stellen der Vertrauensfrage durch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit dem Ziel der Ablehnung sei unzulässig gewesen. "Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung von 1983 selbst deutliche Vorgaben gemacht. Die Auflösung des Parlaments ist nur dann nicht zu beanstanden, wenn der Bundeskanzler tatsächlich nicht mehr das Vertrauen der Mehrheit im Bundestag hat." Dafür gebe es aber keinen Beleg.

Auch der Staatsrechtsexperte Volker Epping nannte die Entscheidung Köhlers falsch. Der Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität Hannover betonte: "Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestags liegen nicht vor. Der Kanzler hat keine wirkliche Vertrauensfrage gestellt, sondern das Misstrauen inszeniert." Auch die Befürwortung von Neuwahlen durch die meisten Deutschen rechtfertige Köhlers Entscheidung nicht, sagte Epping. "Man kann nicht sagen: wenn alle den Verfassungsbruch wollen, dann ist es kein Verfassungsbruch."

Der Verfassungsrechtler Jochen Rozek beurteilt die Klageaussichten ebenfalls positiv. Köhler habe sich an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1983 orientiert. Es stelle sich aber die Frage, ob die Tatsachen dafür ausreichten, die Handlungsfähigkeit des Kanzlers in Frage zu stellen. "Politische Meinungsverschiedenheiten in einer Koalition allein reichen nicht aus. Selbst umstrittene Vorhaben wie die Hartz-Gesetze sind mit der nötigen Mehrheit beschlossen worden."

Schneider: Köhlers Begründung ist "äußerst mager"

Der Hannoveraner Staatsrechtler Hans-Peter Schneider sieht große Chancen für die von ihm vertretene Klage der SPD-Abgeordneten Jelena Hoffmann gegen die Auflösung des Bundestages. Die Ausführungen von Bundespräsident Köhler zur verfassungsrechtlichen Begründung seiner Auflösungsanordnung seien "äußerst mager", sagte Schneider am Freitag.

"Mich hat überrascht, dass er so wenig dazu gesagt hat, warum er keine andere Lagebeurteilung als der Kanzler sieht", erläuterte Schneider. Köhler habe sich "hinter dem Ermessensspielraum des Kanzlers verschanzt".

Die Organklage gegen die Entscheidung des Bundespräsidenten will Schneider "am kommenden Donnerstag abschicken, so dass sie am Freitag beim Bundesverfassungsgericht eingehen wird".

Darin werde er argumentieren, dass der Bundespräsident eine andere Lagebeurteilung als Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) "eindeutig hätte vorziehen müssen". Es gebe "keinerlei Belege" dafür, dass Schröder tatsächlich nicht mehr auf die Unterstützung der rot-grünen Bundestagsmehrheit rechnen könne.

"Wo kämen wir denn hin, wenn irgendwelche Kanzlerkritik - sei sie auch noch so massiv vorgetragen - zur Auflösung des Bundestages führen würde", meint Schneider. Er wies darauf hin, dass das Wahlmanifest der SPD "im Vorstand der Partei einstimmig verabschiedet wurde". Die von Köhler angeführte "Ausnahmesituation", in der das Grundgesetz auch bei einer unechten Vertrauensfrage die Auflösung des Parlaments erlaube, bestehe eben nicht.

Auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Bürger Neuwahlen wünsche, habe verfassungsrechtlich "keinerlei Bedeutung", betonte der Rechtsprofessor. Er verglich dies mit dem Fall, dass eine Mehrheit in der Gesellschaft die Einführung der Todesstrafe wolle. Auch dann wäre dies durch die Verfassung ausgeschlossen.

Ex-Verfassungsrichter: Keine substantiierte Begründung Köhlers

Der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz sieht eine "gewisse Schwäche" in der Rede von Bundespräsident Horst Köhler zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages. Köhler "hätte besser substantiiert darlegen sollen, warum er keine eindeutig andere Lagebeurteilung als der Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte", sagte Mahrenholz.

Mahrenholz hatte das Karlsruher Urteil von 1983 als Richter mitformuliert und mitgetragen, in dem der Zweite Senat nach der verlorenen Vertrauensfrage des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl die Auflösung des Bundestages billigte.

Köhler habe sich jetzt "geschickt bis in die Formulierungen hinein an die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983 gehalten und diese zum Teil wörtlich zitiert", sagte Mahrenholz. Köhler sei aber in einem Punkt "auffallend" vom Urteil aus dem Jahr 1983 abgewichen, indem er den Begriff "stetiges Vertrauen" in "stetige Zustimmung" geändert habe.

So hieß es im sechsten Leitsatz des Urteils: "Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine (des Bundeskanzlers) Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag." Köhler sagte aber: "Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine von stetiger Zustimmung der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann."

Mahrenholz ist sich sicher, dass Köhler die Begriffe bewusst geändert hat. Dies sei "eher eine Verstärkung der Position Schröders", sagte Mahrenholz. Fehlende "Zustimmung" impliziere nämlich, dass Abgeordnete Schröder bei "konkreten Projekten" nicht folgen wollten, während ein Entzug des "Vertrauens" weniger leicht zu belegen sei.