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Bremen: Pflege braucht neues Konzept

Ambulante Versorgung

Ambulante Versorgungslücke in Bremen. Die Pflege in Bremen braucht neues KonzeptElsbeth Rütten war damals vorbereitet. Als ausgebildete Krankenschwester wusste sie, dass sie Hilfsmittel brauchen würde für die erste Zeit zu Hausen nach einer Fuß-Operation:Ein Krankenbett, einen Toilettenstuhl auf Rollen, ein Badewannenbrett hatte sie sich vor der OP verschreiben lassen, Essen auf Rädern hatte sie organisiert. Wie viel Hilfe sie tatsächlich brauchte, fiel ihr aber erst auf, als sie mit ihrem Liegegips allein in der Wohnung war–und mehrere Wochen weder einkaufen noch Medikamente besorgen oder Wäsche waschen konnte. „Man braucht Hilfe im Alltag“, weiß Rütten heute, Jahre später. Doch seit 2005 übernehmen die Krankenkassen nur noch in Ausnahmefällen hauswirtschaftliche Unterstützung. Gleichzeitig entlassen Kliniken seit der Einführung der Fallpauschalen im Jahr 2004 Patienten deutlich schneller als früher. Wenn sich nicht direkt eine Reha-Maßnahme anschließt, entsteht eine Versorgungslücke, die besonders für Senioren zur unüberwindbaren Kluft werden kann. Doch es gibt Ansätze, das zu ändern: In Köln entwickelt seit Herbst ein Arbeitskreis der Kommunalen Gesundheitskonferenz Richtlinien für ein besseres Entlassungs- und Überleitungsmanagement.

Bundesweit soll seit 1. Januar das neue Versorgungsstrukturgesetz die Krankenkassen dazu bewegen, die Hauswirtschaft wieder in den Leistungskatalog aufzunehmen. Aber Patienten können sich auch selbst mithelfen, die Versorgungslücke zu überwinden. Die beiden letzten Punkte hat sich Elsbeth Rütten zur Aufgabe gemacht: Die 63-Jährige hat nach ihren eigenen Erfahrungen den Verein „Ambulante Versorgungslücke“ gegründet. Ein Ziel:

Den Paragrafen 38 des Sozialgesetzbuches zu aktualisieren. Er knüpfte häusliche Krankenpflege und hauswirtschaftliche Leistungen daran, dass durch sie ein Krankenhausaufenthalt verkürzt wird – das aber ist seit Einführung der Fallpauschalen 2004 fast nicht mehr möglich. Im Oktober 2010 wurde Elsbeth Rütten, die 25 000 Unterschriften gesammelt hatte, in den Gesundheitsausschuss der Bundesregierung eingeladen.

Anfang August 2011 beschloss das Kabinett das neue Versorgungsstrukturgesetz, es trat zum Jahresbeginn 2012 in Kraft. In Paragraf 38 heißt es nun, die Krankenkassen-Satzung „soll bestimmen, dass die Krankenkasse (…) Haushaltshilfe erbringt, wenn Versicherten wegen Krankheit die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist“. Rütten ist mit dem Zwischenschritt zufrieden, aber: „Wir wollen ein «Müssen» im Gesetz, einen Rechtsanspruch. So werden die Satzungen wahrscheinlich in einem Jahr nicht viel anders aussehen.“ Immerhin: Einige Kassen, so Rütten, hätten ihre Satzungen bereits geändert. Aber selbst wenn die Kasse für eine Haushaltshilfe aufkommt, löst das nicht jedes Problem. Kürzlich hatte Elsbeth Rütten eine 85-Jährige am Beratungstelefon ihres Vereins.

Die Frau bat um Hilfe, vom Krankenbett aus: „Sie hatte 14 Tage eine Haushaltshilfe, musste nun feststellen, dass die Kasse die nicht länger zahlt– sie aber noch sechs Wochen liegen muss“, berichtet Rütten.

Der typische Fall eines „systemimmanenten Missverständnisses“: „Der Patient denkt, die Kasse zahlt so lange, bis er gesund ist. Die Kasse hat aber eine andere Vorstellung von «gesund»: Für sie hört die Krankheit mit dem Behandlungsende auf. Das kann nach einer OP der Fall sein.“

Rütten riet der Anruferin, ihre Putzhilfe öfter kommen zu lassen, tageweise auf die von der Kasse bezahlte Haushaltshilfe zu verzichten, damit diese länger zur Verfügung steht, und Essen auf Rädern zu bestellen. Oft, sagt Rütten, sei Unterstützung – ob durch die Putzhilfe, Angehörige oder Nachbarn – durchaus möglich, die Betroffenen trauten sich nur nicht, danach zu fragen. Entscheidend sei aber, sich selbst zu kümmern. Patienten müssten selbstständiger werden und geplante Krankenhausaufenthalte vorbereiten.

„Packen Sie ein Köfferchen, wie es Schwangere tun – mit einer Liste der Medikamente, die Sie nehmen, den Krankenkassenunterhalten und wichtigen Telefonnummern.“

Zuständig für einen geordneten Übergang aus der Klinik nach Hause sind die Krankenhäuser.

Seit 2004 gibt es nicht nur die Fallpauschalen und damit schnellere Entlassungen, es gibt auch den „Expertenstandard Entlassungsmanagement“. 2009 wurde er aktualisiert. Umgesetzt wird er allerdings kaum: Nur jedes sechste Krankenhaus in NRW hat eine Stelle für Pflegeüberleitung. Eine aktuelle Studie zeigt, dass der Gesundheitszustand der Patienten bei Reha-Beginn in den letzten Jahren deutlich schlechter geworden ist – weil sie davor eine Übergangszeit alleine zuhause meistern müssen.

Seniorenvertreter berichten von Entlassungen hilfloser, zum Teil demenzkranker älterer Menschen nach Hause, nicht selten vor oder an Wochenenden. Darauf, dass sich im Zweifel schon die Angehörigen kümmern, dürfe man sich nicht verlassen, mahnt Martin Theisohn, stellvertretender Vorsitzender der Landesseniorenvertretung NRW: „30 Prozent der 70-Jährigen sind völlig alleinstehend.“ 2009, sagt Theisohn, der auch in der Kölner Seniorenvertretung aktiv ist, habe man alle Kölner Kliniken angeschrieben: „16 haben geantwortet, aber nur drei hatten eine schriftliche Arbeitsanweisung zum Entlassungsmanagement.“

Die Folge: Entlassungen würden häufig nicht geplant. „Wir müssen von dieser Zufälligkeit wegkommen und gezielt schauen: wer könnte Hilfe gebrauchen?“, fordert Theisohn.

Diese Ziele seien in den Kliniken aber nur umsetzbar, wenn das Überleitungsmanagementfest in die Arbeitsabläufe integriert sei – und derjenige, der es organisiert, gegen eine zu zügige Entlassung ein Veto einlegen könne. Den Übergang zu organisieren, wäre für Krankenhäuser sogar ökonomisch sinnvoll, sagt Theisohn, der als Pharmakologe selbst lange am Kölner Uniklinikum tätig war: „Sonst droht der sogenannte Drehtüreffekt – die Patienten müssen wieder aufgenommen werden, die Behandlung kann aber kein zweites Mal abgerechnet werden.“

Für Senioren können die Folgen kürzerer Behandlungszeiten aber noch weitreichender sein: „Wenn der Sozialdienst entscheidet, jemand ist zuhause unterversorgt und ihn ins Heim vermittelt, hat er sich da vielleicht nach drei Wochen berappelt – aber dann gibt es das Zuhause womöglich nicht mehr. Das füllt die Heime, ohne dass es notwendig wäre“, sagt Theisohn. In Köln hat die kommunale Gesundheitskonferenz deshalb einen Arbeitskreis gebildet, in dem unter Koordination des Gesundheitsamtes Vertreter von Wohlfahrtsverbänden, Krankenkassen, der Ärztekammer und des Krankenhauszweckverbandes ein einheitliches Konzept für das Entlassungs- oder Überleitungsmanagement entwickeln sollen.

Vorbild ist die Stadt Essen, die bereits mit Einführung der Fallpauschalen begonnen hat, das Entlassmanagement einheitlich zu strukturieren – und bis heute daran arbeitet. „Wir hätten nie gedacht, dass es so lange dauert“, sagt Lisa Schwermer, Geschäftsführerin der Essener Gesundheitskonferenz. Zentrales Element ist ein standardisierter Formularbogen, den einweisende Ärzte und Pflegeheime genauso verwenden wie entlassende Krankenhäuser.

Er soll den Arztbrief ersetzen und in knapper Form relevante Informationen übermitteln – Medikamente, mit denen jemand behandelt wird, ob er an einer Demenz leidet oder Orientierungsschwierigkeiten hat, ob er schwerhörig ist oder Hilfe beim Essen braucht. Dazu kommen spezielle Anlagen für Infektionen mit multiresistenten Erregern, psychische Krankheiten sowie eine Checkliste für eine Bestandsaufnahme des Hilfebedarfs schon bei Ankunft im Krankenhaus.

In Essen beteiligten sich mittlerweile alle Kliniken und die meisten Pflegeheime und ambulanten Dienste an dem standardisierten System. Bis sich die Kölner Institutionen auf einen solchen Bogen geeinigt haben, kann es noch dauern. Deshalb gilt für Patienten vorerst weiter:

Kümmern Sie sich selbst – sonst tut es womöglich keiner.

(aus "MAGAZIN" 11. Januar 2012) http://www.ambulante-versorgungsluecke.de/