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Die NSA-Abhöraffäre und die Verhältnismäßigkeit

<<ZUM (VER-)ZWEIFELN>>

Tausende haben in Deutschland gegen die NSA-Abhöraffäre protestiert, Zehntausende gehen zu Mario Barth in die Show, Millionen zur Open-Air-Messe des Papstes. In den USA sind seit 2002 etwa 25 Menschen durch Terroranschläge ums Leben gekommen, doch sterben jedes Jahr dort über 30.000 Menschen durch privaten Schusswaffengebrauch. Etwa gleich viele in Deutschland durch multiresistente Krankenhauskeime. Wenn ein paar hundert oder tausend Bürger in Verdacht geraten sind und von verdeckten Ermittlern elektronisch überwacht werden, dann ist das normal. Ein Land ohne Geheimdienste ist eine etwas utopische Vorstellung. Totale Transparenz ist ebenso blauäugig und ebenso erschreckend wie totale Überwachung, denn das läuft auf dasselbe hinaus. Wenn aber die Kommunikation eines jeden Bürgers überwacht wird in der Hoffnung, etwas Verdächtiges zu finden, dann ist das die Überschreitung einer bedenklichen Grenze. Von der wir nicht wissen, wo genau sie liegt. Das Schüsselwort ist „Verhältnismäßigkeit“ – eine breite graue Linie und keine scharfe Grenze zwischen schwarz und weiß. Aber diesseits und jenseits dieser Grenze liegen grundsätzlich verschiedene Welten. „Mehr ist anders“, so fasste es der Physiker und Nobelpreisträger Philip W. Anderson zusammen. Quantität wird zu Qualität. Das ist nicht leicht zu verstehen, denn es ist ein zentrales Problem des Seins und damit der Philosophie: Emergenz.

Mehr ist anders – der Ausspruch ist so trivial, dass eine tiefere Bedeutung darin stecken muss. Doch viele halten dies für eine ebenso abgehobene Frage wie die der mittelalterlichen Scholastiker, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten. Dass ein System mehr ist als die Summe seiner Teile, das hat sich inzwischen herumgesprochen. Aber auch ein scheinbar einfacher und strukturloser Haufen von gleichartigen Dingen, die untereinander keine Beziehung haben, hat es in sich. Nicht nur, weil die Grenze zwischen Systemen und Haufen sowieso nicht so leicht zu ziehen ist. Eigentlich hat jeder schon die Erfahrung gemacht, dass eine andere Quantität auch eine neue Qualität bedeutet. Das merkt man spätestens, wenn einem ein Sandkorn, ein Stein oder ein Felsen auf den Kopf fällt. Das leuchtete jedem ein. Damit wäre der Artikel schon hier zu Ende, wenn es nicht noch einige interessante Aspekte dieser (an sich platten) Aussage gäbe. Denn dieses „mehr“ ist ja nicht einfach ein Unterschied zwischen wenig und viel, klein und groß. Es ist Wachstum (die Vokabel, die unsere Politiker und Industriellen immer wie ein Mantra beschwören). Oder „Emergenz“, will man sich gebildet ausdrücken. Also der Prozess des Überganges von wenig zu viel.

Die Sandfalle schnappt zu

Wann also ändert sich bei einer Zunahme der Quantität auch die Qualität? Illustrieren lässt es sich mit einer erdachten Geschichte: ein kleiner Junge mit seinem Vater auf dem Spielplatz. Der Sechsjährige sitzt im Sandkasten und spielt mit seinen Förmchen. Stolz zeigt er auf das Ergebnis und sagt: „Schau mal, Pappi, mein Sandhaufen!“ In diesem Augenblick lädt am Rande des Spielplatzes ein Lkw eine Fuhre Sand ab. „Das ist ein Sandhaufen, mein Sohn!“, sagt der Vater. Der Kleine verzieht weinerlich das Gesicht, stellt dann aber die entscheidende Frage: „Ab wie vielen Körnern ist denn ein Sandhaufen ein Haufen?“

»Papi, ab wie vielen Körnern ist ein Sandhaufen ein Haufen?«

Die Mathematik macht es sich hier einfach: Ein Haufen wird dort „Menge“ genannt. Sie kann beliebig viele Elemente haben – sogar überhaupt keins: die „leere Menge“. Aber wir sind nicht im Theorieraum der Mathematik, wir sind im richtigen Leben. Ja, „reine“ Haufen sind ausgesprochen selten – die „Emergenz“ neuer Eigenschaften und damit die Bildung von dem, was wir „System“ nennen, ist die Regel. Die kürzeste Definition von „Emergenz“ lautet: „more is different“ – mehr ist anders. Eine Zunahme der Quantität bedeutet eine Umwandlung der Qualität. Ein einfacher „Haufen“ von Eisenatomen, also ein Eisenklotz, hat schon solche neuen Eigenschaften, z. B. seine Temperatur oder seine Festigkeit. Diese Eigenschaften hat das einzelne Eisenatom nicht. Wie viele von ihnen man auf einem Haufen braucht, um eine physikalische Messgröße wie „Temperatur“ definieren zu können, ist unklar. Wie bei dem Kleinen auf dem Spielplatz. Sind es viele Atome (wirklich viele: einige 1000 Milliarden Milliarden pro Gramm), dann können wir sagen: „Dieses Gramm Eisen ist 50°C warm.“ Die Temperatur einer Riesenmenge von Eisenatomen ist eine statistische Zusammenfassung ihrer individuellen Geschwindigkeiten in Form einer einzigen Zahl. „Temperatur ist flitzende Atome“, sagte mal ein Physiker. Und 50°C ist verhältnismäßig wenig, 5000°C aber verhältnismäßig viel, denn das Eisen hat dann mindestens eine neue Eigenschaft: Es ist flüssig.

Auch ein einzelner Buchstabe oder zwei von ihnen haben in der Regel keine Bedeutung, erst Wörter und Sätze, die wir daraus formen. Schließlich sind wir selbst das beste Beispiel: Wir können denken – eine einzelne Nervenzelle kann es nicht. Eine „intelligente Zelle“ ist ein Lacher. Denn was aus dem Mehr entsteht, ist Komplexität – und damit ein neues Gesamtsystem mit neuem Verhalten. Die gesamte Chemie beruht auf dem Systemgedanken: Chlor ist ein Gas und Natrium ein Metall. Heiraten ein Chlor- und ein Natrium-Atom, dann bilden sie ein neues System mit neuen Eigenschaften: Kochsalz.

Leben ist die Auswirkung des unendlich Komplexen

Und Leben, so sagt der französische Jesuit, Philosoph und Wissenschaftler Teilhard de Chardin, ist die „Auswirkung des unendlich Komplexen“ – es entsteht „von alleine“ durch Zunahme von Komplexität.

Mehr ist nicht einfach mehr

Das ist nur ein scheinbar alberner Satz. Vornehm ausgedrückt ist es das Phänomen der „Nichtlinearität“. 2 Tonnen Sand sind einfach doppelt soviel wie 1 t – ein linearer Zusammenhang. Aber 120 km/h sind nicht einfach doppelt soviel wie 60 km/h, betrachtet man z. B. den Bremsweg. Er ist nicht doppelt, sondern vierfach so lang. Eine dreimal so schnelle Kugel hat die neunfache Durchschlagskraft. Mehr ist anders – natürlich gilt dieser Satz nicht absolut. Hier stehen nie Sätze, die absolut gelten (nicht einmal dieser). Wir kennen viele Fälle der „Skaleninvarianz“, in denen Phänomene von der Größe nicht abhängig sind. Andernfalls könnten wir keine kleinen Modelle von realen Situationen bauen.

Was ist die Ursache der neuen Eigenschaft, wann entsteht sie und wie, durch welche (übernatürliche?) Kraft wird sie hervorgebracht – quasi „aus dem Nichts“? Die Antwort ist: Sie war schon immer da, denn sie ist eine statistische Größe. „Temperatur“ ist die Durchschnittsgeschwindigkeit vieler Moleküle – und nicht bemerkbar, messbar, erfassbar, wenn es nur ein oder zwei sind. So wie die Durchschnittsgröße einer Bevölkerungsgruppe vielleicht eine aussagefähige Zahl ist: Die Buschmänner in Afrika sind durchschnittlich 1,57 m groß. Die Durchschnittsgröße eines Ehepaares dagegen sagt nichts aus. Ab welcher Menge von Einzelteilen ein neues Ganzes entsteht, ist nicht immer ganz klar. Es hängt vom Standpunkt des Betrachters ab, ab wie viel Elementen das „Gesetz der großen Zahl“ gilt. „Aha!“, sagen die Konstruktivsten, „also wir machen unsere Bedeutungszuschreibung, wir setzen die Grenzen, wir definieren, was ist und was nicht ist. Es gibt keine Wirklichkeit.“ Das jedoch hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Neulich habe ich mir von einem Freund einen Euro geliehen. Irgendwie geriet das in Vergessenheit, und er hat ihn nie wieder gesehen. Auch einem Handwerker war ich unlängst etwa 1000 € schuldig. Ich hatte es einfach vergessen. Er hat mir eine Mahnung geschickt und ich habe sofort bezahlt. Bringen wir noch einmal den Faktor 1000 an: Ich leihe mir von einer Bank eine Million Euro. Da hört der Spaß auf. Die Bank will eine Sicherheit, die sie zu Geld machen kann, wenn ich den Kredit nicht zurückzahle. Dabei wird sie nicht mit der Wimper zucken. Anders ist es (noch einmal der Faktor 1000), wenn ich mir eine Milliarde leihe. Nun (und besonders bei noch höheren Beträgen) wird sich die Bank rührend um mein Wohlergehen kümmern. Denn nun bin ich zu groß, um fallen gelassen zu werden. Wenn die Verhältnismäßigkeit nicht mehr passt, ändert sich die Situation. Grundlegend. Mehr ist eben anders. Und das ist „Emergenz“: das Entstehen eines neuen Ganzen mit neuen Eigenschaften.

Der Schleimpilz zeigt uns die Gesetze des Lebens

Hier möchte ich den deutschen Biochemiker Frederic Vester wörtlich zitieren, weil man es klarer nicht formulieren kann: „Wenn mehrere Einzelsysteme so nahe aufeinander rücken, dass sie in Wechselbeziehung treten, müssen sie irgendwann ein neues System bilden. Nur so können sie überleben. Ohne eine neue Organisationsform wird ein Teil der Einzelsysteme zugrunde gehen, bis die frühere Dichte wieder erreicht ist.

Ein beeindruckendes Beispiel für die Bildung eines solchen »Supersystems« ist die Entwicklung bisher getrennt lebender Amöbenzellen zu einem neuen Organismus: einem Schleimpilz. Bei geringer Dichte teilen und vermehren sich diese Amöben als einzellige Organismen und leben völlig unabhängig voneinander. Unter entsprechenden Umweltbedingungen (entsprechend große Dichte, Nahrungsknappheit, sinkende Feuchtigkeit) ändern sie plötzlich ihr bisheriges Verhalten. Sie beginnen auf einmal zusammenzuströmen, wobei sie sich durch Aussenden chemischer Substanzen orientieren - eine erste Stufe der Kommunikation. Sie bewegen sich dabei sämtlich in Richtung der stärksten Konzentration. Bald türmen sie sich zu einem Haufen auf und beginnen die nächste Stufe ihrer Verhaltensänderung. Sie übernehmen unterschiedliche Aufgaben. Die einen erstarren und bilden einen tragfähigen Strang, die anderen trocknen zu Sporen aus, und wieder andere bilden für diese eine Schutzhülle. Das Gebilde beginnt sich zu »differenzieren«, zur Endform zu entwickeln, zu einem Schleimpilz. Ein neues System, ein neuer Organismus ist entstanden, der dennoch ganz aus Amöben besteht.“

„Natürlich ist dies ein besonders extremes Beispiel, wie sich Systeme unter einer neuen Dichte verändern. Es zeigt jedoch deutlich ein Urprinzip der Natur: Verhaltensänderung bei einer höheren Dichte. Auch wir Menschen haben durch die plötzliche Vertausendfachung unserer Wachstumsrate (von 0,002 auf 2 %) eine neue Dichteschwelle überschritten. Wir erkennen jedoch noch nicht die neuen Gesetzmäßigkeiten, die damit verbunden sind. Denn wir schalten und walten und planen trotz des gewaltigen Dichtesprungs, den die Menschheit gemacht hat, so, als ob wir nicht 4 Milliarden, sondern erst 4 Millionen Menschen wären, als ob noch so wie im alten Germanien da und dort eine Eisenhütte betrieben würde, pro Kopf eine Anbaufläche von 40 Hektar zur Verfügung stünde, die großen Flüsse alle Verschmutzungen aufnehmen könnten und die natürliche Verrottung der Abfälle in einer reichhaltigen Tier-, Pflanzen- und Mikrobenwelt integriert und von ihr anstandslos besorgt würde.“

„Man glaubt, dass lediglich alles mehr geworden sei, sich die Quantität verändert habe und man nur mit genügend großen Kräften an die Probleme herangehen müsse. Doch es ist auch die Qualität der menschlichen Zivilisation, die sich mit jenem Dichtesprung geändert hat und die somit auch neue Dimensionen des Denkens und Handelns verlangt.”

Mahnende Worte – im Jahre 1978. Inzwischen sind wir 7 Mrd. Menschen und wachsen immer noch weiter. So hat die „Emergenz“ von Steinzeithorden zu Staaten schon vor Jahrtausenden neue soziale Systeme mit neuen Eigenschaften entstehen lassen. Und jetzt schafft die Globalisierung ein neues Ganzes mit wiederum andersartigen Eigenschaften, schon durch die Zentralisierung von Informationen.

Was uns von Steinzeitmenschen unterscheidet

Wenig. Erich Kästner drückte es noch dramatischer aus: „Im Grunde sind wir noch immer die alten Affen.“ Viele unserer Reaktionen stammen aus dieser Zeit: Fluchtverhalten, Aggression, Revierkämpfe und Hierarchien, Imponiergehabe und so weiter. Auch ein kleiner, relativ überschaubarer Kreis von Menschen, mit denen wir uns solidarisch fühlen. Doch etwas ist anders geworden. Denn wir sind mehr geworden. Und mehr ist anders. Die Dichte ist gestiegen. Man braucht nicht nach Tokio zu fahren, um den Dichtestress in einer vollen U-Bahn zu erleben – unser tägliches Großstadtleben reicht vollkommen aus. Steinzeithorden, so sagen uns die Paläontologen, kannten kaum Kriege. Verbände um 60 Personen lebten in riesigen Gebieten und gingen sich aus dem Wege. Kämpfe um Jagdreviere waren selten – es gab genug. Eroberungskriege – wozu?

Heute leben wir in großer Dichte. Wir kämpfen um Vorherrschaft und Ressourcen – bald um Basisbedürfnisse wie Nahrung und Wasser. Ein Familienverband ist keine Dorfgemeinschaft – das merkten die Steinzeitmenschen vermutlich bei der Einführung der Landwirtschaft. Später kamen Städte und Reiche hinzu. Das Leben änderte sich aufgrund verschiedener Einflüsse, aber einer davon ist das Mehr an Menschen pro Einheit. Jetzt versuchen wir in Europa, was die USA schon hinter sich haben: eine höhere Einheit zu bilden. Aber mehr ist anders – Separatisten versuchen den Rückweg. Der nächste Schritt wird die Weltengemeinschaft, denn Emergenz und Evolution lassen sich nicht umkehren. Auch hier wird das Mehr das Ganze verändern.

Mehr ist anders. Weniger ist auch anders – das weiß jeder Hartz-IV-Empfänger. Die Hälfte eines ordentlichen Einkommens ist nicht die Hälfte an Lebensqualität, ist es gar keine mehr. Und so können wir unsere tiefsinnige Betrachtung mit einer heiteren Moral beenden, wie sie Kurt Tucholsky so schön formuliert hat: „Lebst du mit ihr gemeinsam - dann fühlst du dich recht einsam. // Bist du aber alleine - dann frieren dir die Beine. // Lebst du zu zweit? Lebst du allein? // Der Mittelweg wird wohl das richtige sein.“

Sagen Sie nie wieder: »Ach, das ist ja nur ein quantitatives Problem!«

Und nun sammelt nicht nur eine neugierige Nachbarschaft oder eine Dorfgemeinschaft ein paar Daten über unser Leben, unsere Vorlieben und unsere Wünsche. Leute, zu denen wir notfalls gehen können, um uns die Verbreitung bösartige Gerüchte zu verbitten. Nun sammeln anonyme Stellen in den Geheimdiensten und der Wirtschaft alles von uns, dessen sie habhaft werden können. Die Gerüchtebildung ist automatisiert: Computer schlagen uns Krimis vor, wenn wir den letzten „Dan Brown“ gut gefunden haben. Algorithmen verknüpfen unsere Äußerungen, unsere Kommunikation, unser Kaufverhalten, unsere Fotos, unsere Freunde zu einer riesigen Rasterfahndung, die durch ihre reine Größe erschreckt. Also sagen Sie nie wieder: „Ach, das ist ja nur ein quantitatives Problem!“ Denn mehr ist anders.

Jürgen Beetz