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Rechtmäßigkeit der Wehrpflicht ausdrücklich "offen"

Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht hält die Frage der Rechtmäßigkeit der derzeitigen Einberufungspraxis der Bundeswehr für "offen". Die Karlsruher Richter wiesen am Mittwoch zwar den Eilantrag eines sächsischen Wehrpflichtigen gegen die Einberufung zum Wehrdienst aus formalen Gründen zurück. Zugleich machten sie aber deutlich, dass eine - noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache - die bisher "nicht geklärte Frage" aufwerfen würde, ob die derzeitige Einberufungspraxis mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Wehrpflicht vereinbar sei. Kriegsdienstgegner sehen sich durch die Gerichtsentscheidung indes in ihrem Nein zur Wehrpflicht bestätigt, da das Gericht ausdrücklich die Frage nach der Wehrgerechtigkeit gestellt habe.

Der Kläger hatte argumentiert, seine Einberufung verstoße gegen den Grundsatz der Wehrgerechtigkeit. Die seit dem 1. Juli 2003 geltenden Einberufungsrichtlinien des Verteidigungsministeriums verletzten den Grundsatz der Gleichbehandlung, da statistisch nur noch jeder vierte wehrpflichtige Mann zum Wehrdienst einberufen werde. Nachdem sein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht ohne Erfolg blieb, hatte der Mann Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe erhoben und zugleich erneut vorläufigen Rechtsschutz beantragt.

Die vorliegende Beschwerde des Mannes sei aber deshalb unbegründet, weil sie sich gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch das Verwaltungsgericht Chemnitz richte. Hier wollte der Wehrpflichtige die Aussetzung der Vollziehung des Einberufungsbescheides erreichen. Das Bundesverfassungsgericht erkannte aber keine auf das Eilrechtsschutzverfahren bezogene "spezifische Grundrechtsverletzung" durch das Verwaltungsgericht. Eine nach Durchlaufen des kompletten Instanzenzuges erhobene Verfassungsbeschwerde gegen den Einberufungsbescheid wäre jedoch "weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet", betonte das Verfassungsgericht.

Die Karlsruher Richter erklärten, die Verfassungsbeschwerde werfe "die noch nicht geklärte Frage auf, ob die gegenwärtige Einberufungspraxis mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Wehrpflicht vereinbar" sei und ob die neuen Einberufungsrichtlinien gegen das Gebot der Wehrgerechtigkeit verstoßen. "In diesem Zusammenhang kann dann auch die Frage zu klären sein, ob die Wehrgerechtigkeit noch gewahrt ist, wenn nur ein geringer Teil der wehrpflichtigen Männer zur Bundeswehr einberufen wird. Bei offenem Ausgang eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens hängt die Entscheidung von einer Folgenabwägung ab", hieß es.

Diese Passage ist nach Ansicht der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer ais Gewissensgründen (KDV) entscheidend für die Zukunft. Anders noch als vor zwei Jahren, als das Verfassungsgericht die Entscheidung an den Bundestag zurück verwiesen hatte, sei das Gericht offenbar gewillt, die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht zu überprüfen, sagte KDV-Geschäftsführer Peter Tobiassen am Donnerstag. Die Politik sollte rasch reagieren und den Ausstieg aus der Wehrpflicht einleiten.

Auch für die FDP ist die Karlsruher Entscheidung ein Warnsignal. Eine "politische Entscheidung" zur Wehrpflicht sei überfällig, betonte der FDP-Sicherheitsexperte Günther Nolting. Da von Wehrgerechtigkeit "keine Spur" mehr sei, müsse die "Wehrverfassung aus der Zeit des Kalten Krieges" endlich abgeschafft werden.

Der Beschwerdeführer hatte auch auf die Aufsehen erregende Entscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts verwiesen, das Ende April die derzeitige Einberufungspraxis als rechtswidrig bewertet hatte. Nach der Kölner Entscheidung können sich faktisch alle Wehrpflichtigen problemlos dem Dienst fürs Vaterland entziehen, wenn sie nur langfristig genug planen und rechtzeitig umziehen: Im Bereich des Verwaltungsgerichts Köln sind Einberufungen praktisch nicht mehr möglich. Aber auch Kriegsdienst-Unwillige aus andere, die nicht umziehen wollen, könnten Glück haben: Angeblich wird derzeit niemand mehr einberufen, der rechtzeitig dagegen protestiert. Die Bundeswehr hat ja schließlich genug Auswahl.

Beschluss vom 17. Mai 2004, AZ: 2 BvR 821/04