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Scharfe Kritik in Sondervoten zu Neuwahl-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

"Bloße Kontrollfassade aufgebaut"

Das Bundesverfassungsgericht wies am Donnerstag die Organklage von zwei Abgeordneten gegen die Auflösung des Bundestages als unbegründet zurück. Die Entscheidung des Zweiten Senats fiel mit einer großen Mehrheit von 7 zu 1 Richterstimmen. Das Verfassungsgericht bestätigte damit wie erwartet die Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler, der nach der absichtlich verlorenen Vertrauensfrage von Bundeskanzler Gerhard Schröder das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt hatte. Ein zweckwidriger Gebrauch der Vertrauensfrage lasse sich "nicht feststellen", sagte der Berichterstatter in dem Verfahren, Udo di Fabio. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei "keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen". Der abweichende Richter Hans-Joachim Jentsch vertrat in seinem Sondervotum hingegen die Ansicht, dass das Grundgesetz kein "konstruiertes Misstrauen" des Bundeskanzlers kenne. Der Richterspruch schwäche den Bundestag und stärke die Stellung des Kanzlers, wenn dieser eine "akklamatorische Bestätigung seiner Politik" suche und "parteiinterne Widerstände" überwinden wolle.

Gerichtsvizepräsident Winfried Hassemer sagte, der Bundespräsident treffe mit der Entscheidung, den Bundestag aufzulösen, eine "politische Leitentscheidung", die nur eingeschränkt vom Verfassungsgericht überprüfbar sei.

Hassemer meint, dass "von außen nur teilweise beurteilt werden" könne, ob der Kanzler über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügt. Wegen der politischen und parlamentarischen Arbeitsbedingungen könne "der Öffentlichkeit teilweise verborgen" bleiben, wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den Koalitionsfraktionen entwickele. Es sei "nicht zweckwidrig, wenn ein Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen Abstimmungen drohen", die Vertrauensfrage stelle. "Die Handlungsfähigkeit einer Regierung geht auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen", heißt es in dem Urteil.

Schröder habe "Tatsachen" benannt, die für seine Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag sprächen, hieß es weiter. "Der hergestellte politische Zusammenhang mit der anhaltenden Kritik an seiner Politik der 'Agenda 2010' und den seit 2003 für die SPD ganz überwiegend verlorenen gegangenen Landtagswahlen bezieht sich auf allgemein zugänglich Tatsachen". Diese Sichtweise werde vom SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering "ausdrücklich geteilt".

Sondervotum I: "Das Grundgesetz kennt kein konstruiertes Misstrauen"

In seinem Sondervotum sagte der abweichende Richter Hans-Joachim Jentsch, den vom Kanzler vorgetragenen Gründen lasse sich seine politische Handlungsunfähigkeit nicht entnehmen. Dissens gehöre zum Wesen der innerparteilichen Demokratie. Zudem kenne das Grundgesetz kein "konstruiertes Misstrauen" des Kanzlers gegenüber dem Parlament.

Die Bundesregierung habe in der zurückliegenden Legislaturperiode "niemals die Kanzlermehrheit verfehlt", so Jentsch. Die eingebrachten Gesetzentwürfe zur Umsetzung der "Agenda 2010" seien im Bundestag verabschiedet worden. Auch die parteiinternen Kritiker hätten für die Regierungsvorlagen gestimmt. "Fehlende Mehrheiten sehen anders aus", so Jentsch. Sie bedürften keines "konstruierten Misstrauens".

Schließlich schwäche die Senatsmehrheit die Stellung des Bundestages. Sie erlaube einem Bundeskanzler, "über eine 'unechte' Vertrauensfrage Neuwahlen herbeizuführen, wenn er die akklamatorische Bestätigung seiner Politik für erforderlich hält, um parteiinterne Widerstände zu überwinden".

Sondervotum II: "Bloße Inszenierungen fehlender Verlässlichkeit der Bundestagsmehrheit"

Richterin Gertrude Lübbe-Wolff stimmte der Entscheidung des Gerichts zwar im Ergebnis zu, kritisierte ihre Kollegen aber wegen ihrer sehr starken Zurückhaltung als Kontrollinstanz. Das Gericht habe "eine bloße Kontrollfassade aufgebaut", meint Lübbe-Wolff.

Der Einschätzungsspielraum des Kanzlers sei "so großzügig bemessen" worden, dass das Verfassungsgericht praktisch nicht mehr in die Lage kommen könne, die Einschätzung eines Kanzlers bei einer Vertrauensfrage korrigieren zu müssen. Es gestatte die Berufung auf eine vor Gericht nicht darstellbare "verdeckte Minderheitslage".

Damit seien "bloße Inszenierungen fehlender Verlässlichkeit der Bundestagsmehrheit nicht wirksam zu bekämpfen", sondern drohten nun, erst hervorgerufen zu werden. Den Stabilitätsinteressen sei dies "abträglicher als jede Neuwahl", betonte Lübbe-Wolff. Das Recht befördere damit "nicht gute Ordnung, sondern Simulation".

Zweiter Senat: "Respekt vor den anderen Verfassungsorganen"

Der Zweite Senat betonte seinen Respekt vor den anderen Verfassungsorganen und insbesondere vor der Beurteilungskompetenz des Kanzlers: "Die Einschätzung des Bundeskanzlers, er sei für seine künftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfähig, ist eine Wertung, die durch das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig und nicht vollständig überprüft werden kann", heißt es in dem Urteil. Es sei "nicht zweckwidrig, wenn ein Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen Abstimmungen drohen", die Vertrauensfrage stelle.

Kläger: "In dieser Republik regiert künftig der Kanzler und nicht das Parlament"

Der mit seiner Klage gescheiterte Bundestagsabgeordnete Werner Schulz kritisierte die zurückgenommene Kontrolle der Verfassungshüter: "Das Gericht hat einen einfachen Ausweg gewählt", sagte Schulz. Er sieht mit dem Urteil die Stellung des Bundeskanzlers gegenüber dem Parlament weiter gestärkt: Es sei ein "Schritt in die Kanzlerdemokratie". Ein Kanzler könne nun "auf Verdacht hin" die Auflösung des Bundestages beantragen.

Auch die ebenfalls klagende Abgeordnete Jelena Hoffmann sagte: "In dieser Republik regiert künftig der Kanzler und nicht das Parlament. Wir haben den Weg hin zur Kanzlerdemokratie beschritten."

Bundesinnenminister: "Stärkung der Demokratie"

Bundesinnenminister Otto Schily sieht hingegen durch das Urteil eine "Stärkung der Demokratie". Der Zweite Senat habe der "Stabilität des Regierungshandels großen Wert" zugemessen. Das Gericht habe klargemacht, dass eine willkürliche Auflösung des Bundestages nicht zulässig sei, meint Schily.

Zugleich habe das Gericht betont, dass seine eigene Aufgabe im Falle der Vertrauensfrage in der "Missbrauchs- und Plausibilitätskontrolle" liege. Das Verfassungsgericht bewege sich in der Tradition seines Urteils von 1983, mit dem es nach der verlorenen Vertrauensfrage des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl Neuwahlen gebilligt hatte.

Schily sagte, die abweichende Meinung von Richter Hans-Joachim Jentsch - der sich den sieben übrigen Verfassungsrichtern im Senat entgegenstellte - habe ihn "in keiner Weise beeindruckt".