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Ostdeutsche fühlen sich offenbar nicht akzeptiert

Jahresbericht zur Deutschen Einheit

Mit der Eröffnung eines Bürgerfestes in Kiel haben am Montag die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit begonnen. Bis Dienstagabend werden in der Stadt an der Förde mehrere hunderttausend Gäste erwartet. Unterdessen fühlt sich offenbar auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen noch immer als "Bürger zweiter Klasse". 74 Prozent beantworteten eine entsprechende Frage in einer Umfrage mit "Ja". Nur 26 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich demnach als vollwertige Bürger akzeptiert. Politiker bemängelten Versäumnisse im Einigungsprozess. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) stellte den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit vor.

Die Feierlichkeiten zur deutschen Einheit finden erstmals in Kiel statt. Rund um die Spitze der Kieler Förde präsentieren sich am so genannten Länderkai alle 16 Bundesländer, die Verfassungsorgane und Organisationen. Am Dienstag wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach einem Ökumenischen Gottesdienst bei einem Festakt in der Ostseehalle eine Rede halten.

Der Chef der Linkspartei im Bundestag, Gregor Gysi, forderte, aus der Einheit endlich eine "Vereinigung" zu machen. Dazu gehöre, bestimmte Ost-Erfahrungen - wie zum Beispiel stellvertretende Direktor/innen an den Schulen für außerunterrichtliche Tätigkeit, Kindertagesstätten für Kinder von 0 bis 3 Jahren, Kita-Öffnungszeiten von früh bis spät oder auch die effektive Versorgung der Patienten durch Polikliniken - in ganz Deutschland einzuführen und dadurch die Lebensqualität der Menschen in den alten Bundesländern zu erhöhen.

"Indem dies in den vergangenen 16 Jahren unterblieb, wurde den Ostdeutschen die Steigerung ihres Selbstwertgefühls nicht gegönnt", so Gysi "und den Westdeutschen eine solche Steigerung der Lebensqualität versagt. Wenn dies hingegen endlich in Angriff genommen würde, ließen sich auch andere Fragen leichter lösen.

Notwendig sei der gleiche Respekt für Biographien aus Ost und West, gleicher Lohn für gleiche Arbeit sowie gleiche Renten für eine gleiche Lebensleistung. In den strukturschwachen Regionen – gerade auch im Osten – müsse es staatliche Fördermaßnahmen zur Überwindung der "unerträglich hohen Arbeitslosigkeit" geben.

Thierse: Aufbau Ost wird noch lange dauern

Der Aufbau der ostdeutschen Bundesländer wird nach Ansicht von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) noch lange Zeit in Anspruch nehmen. Auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung seien die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den neuen Ländern noch groß, sagte Thierse am Montag in Berlin. Bis zum "erfolgreichen Abschluss" des Aufbaus Ost werde es daher vermutlich noch einmal so lange dauern.

Nach Auffassung des SPD-Politikers kann man heute nicht mehr pauschal und undifferenziert von "dem Osten" reden. Man habe es nicht mehr mit einem Ost-West-Gegensatz zu tun, vielmehr sei der Osten in sich deutlich differenzierter geworden. Neben Zentren des Wachstums und der Kompetenzen existierten Problemgebiete auf dem platten Land.

Thierse sagte, oberstes Ziel müsse künftig sein, die wirtschaftliche Förderung auf Erfolg versprechende Regionen zu konzentrieren. Davon würden dann auch schwächere Gebiete im Umland profitieren. Die Verteilung der Gelder nach dem Gießkannenprinzip eigne sich nicht.

Ostbeauftragter Tiefensee: 15 bis 20 Jahre

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), räumte Schwierigkeiten beim Aufbau Ost ein. Es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, die Probleme könnten im Handumdrehen gelöst werden. Das werde schon noch 15 bis 20 Jahre dauern.

Am 27. September hatte Tiefensee den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit vorgestellt. "Die Lage in den neuen Ländern muss klar und realistisch betrachtet werden", so Tiefensee. Vielen positiven Entwicklungen stünden eine Reihe von "Fehlentwicklungen" und Problemen gegenüber.

Insgesamt sei Ostdeutschland noch immer ein Wirtschaftsgebiet mit zahlreichen strukturellen Problemen. Neben der schwierigen demographischen Entwicklung drückten die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Noch gebe es "kein selbst tragendes wirtschaftliches Wachstum". Die Arbeitslosigkeit sei rund doppelt so hoch wie in den alten Ländern. Das treffe rund 1,6 Millionen Menschen, die arbeiten wollten, "aber keine Angebote erhalten". Die Arbeitslosenquote Ost liege im Schnitt bei 18,7 Prozent. In fast jeder Familie sei wenigstens einer mit Arbeitslosigkeit konfrontiert.

Konzentration auf Wachstum

Trotz positiver Entwicklungen im verarbeitenden Gewerbe sei der Strukturwandel in Ostdeutschland noch nicht abgeschlossen. Höheres Wachstum sei die Grundvoraussetzung für mehr Beschäftigung. "Deshalb haben wir in der Förderpolitik einen Wechsel eingeleitet", so Tiefensee. "Wir wollen die Aufbau Ost-Förderung stärker als Wachstumsförderung organisieren. Wachstumsmotor ist das verarbeitende Gewerbe; auf seine Stärkung - durch Investitions- und Innovationsförderung - werden wir uns konzentrieren."

Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung ist laut Tiefensee "positiver als die Zahlen, die dem Bericht zu Grunde liegen": Im ersten Halbjahr 2006 habe sich die gesamtwirtschaftliche Leistung gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum um zwei Prozent erhöht, "genau gleich wie in den alten Ländern". Die Industrie sei sogar um 9,8 Prozent gewachsen und habe damit über dem vergleichbaren Wert in den alten Ländern gelegen (+4,4 Prozent).

Auch auf dem Arbeitsmarktmarkt gebe es eine leichte Besserung. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stieg um 0,7 Prozent im ersten Halbjahr, so Tiefensee. Die Arbeitslosenquote habe im August 2006 bei 16,7 Prozent gelegen gegenüber 18,2 Prozent im gleichen Monat 2005.

Investorenanwerbung verbessern

Um mehr Wachstum zu erreichen, will die Bundesregierung laut Tiefensee "die Gewinnung ausländischer Investoren verbessern". "Bisher treten wir im Ausland zu vielstimmig auf. Das können wir noch effizienter und schlagkräftiger gestalten. Darum werden wir die beiden bislang bestehenden Gesellschaften IIC und Invest in Germany miteinander verschmelzen. Die neuen Länder unterstützen dieses Vorhaben, bis auf wenige organisatorische Fragen haben wir hier bereits 'Grünes Licht' erhalten. Ich gehe davon aus, dass die neue Gesellschaft schon ab 1. Januar 2007 starten kann. Zugleich wollen wir die Gesellschaft mit deutlich mehr Mitteln ausstatten nach dem Haushaltsentwurf 2007."

Ostdeutschland habe sich in den vergangenen Jahren zu einem attraktiven Standort entwickelt. Dafür sprächen die Ansiedlungsentscheidungen in letzter Zeit. Das IIC hat laut Tiefensee seit Beginn seiner Arbeit 1997 114 Unternehmen erfolgreich in Ostdeutschland angesiedelt. In diesem Jahr seien bisher sieben Ansiedlungsentscheidungen erfolgreich akquiriert worden, so Tiefensee, ohne allerdings zu sagen, mit welchen Geldbeträgen der Staat diese Ansiedlung subventioniert.

Beispielsweise werde "ein britisches Unternehmen in Upahl (Kreis Nordwestmecklenburg) das modernste Werk für Instantkaffee in Europa bauen. Dabei sollen knapp 50 Millionen Euro investiert werden und ab 2008 120 hoch qualifizierte Arbeitsplätze entstehen." Der Computerchip-Hersteller AMD werde in Dresden ein zweites Werk für rund zwei Milliarden Euro errichten. Dies stärke Europas wichtigsten Standort der Mikroelektronik- und Halbleiterindustrie weiter. Und der US-amerikanische Solarmodulhersteller First Solar investiere in Franfurt an der Oder rund 115 Millionen Euro in die Produktionstechnologie von Solarzellen. "Bei dieser größten Investition in Frankfurt (Oder) seit 1990 werden 400 Arbeitsplätze in einem Markt geschaffen, der weltweit rasant wächst, im letzten Jahr mit 25 Prozent. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig eine professionelle Investorenanwerbung für Ostdeutschland ist."

Wachstumskerne stärken

"Wir werden die Wachstumskerne weiter stärken", kündigte der Ostbeauftragte an. "Dazu gibt es keine Alternative. Wir können an vielen Beispielen sehen, dass die Konzentration auf Wachstumskerne erfolgreich ist." In zahlreichen regionalen Wachstumskernen entstünden industrielle und wissenschaftliche Schwerpunkte. So gebe es viele "auch international wettbewerbsfähige Cluster" in den neuen Ländern, wie zum Beispiel die Automobilindustrie, Mikroelektronik, chemische Industrie, maritime Wirtschaft und Tourismus. Gute Wachstumsraten und hohe Exportquoten fänden sich vor allem in diesen Wachstumskernen. "Sie werden damit immer stärker zum Motor der Entwicklung und wirtschaftlichen Dynamik."

"Aus diesen Gründen wollen wir den Einsatz der Fördermittel genau dort weiter verstärken, um mehr Wachstum für ganz Ostdeutschland zu erhalten. Neben einer breit angelegten, Förderung über GA-Mittel und Investitionszulage werden wir deshalb mit einer stärkeren Schwerpunktsetzung die regionalen Wachstumszentren, innovative Cluster und industrielle Wertschöpfungsketten verstärkt fördern. Dazu werden wir beispielsweise auch die Innovationsförderung intensivieren durch das 6 Milliarden-Programm der Bundesregierung für besonders zukunftsträchtige Forschungs- und Entwicklungsvorhaben."

Durch einen neuen Innovationswettbewerb "Wirtschaft trifft Wissenschaft" will die Bundesregierung die regionalen Akteure in den Forschungseinrichtungen und in den Unternehmen "dazu motivieren, noch stärker als bisher den Transfer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in wirtschaftliche Anwendungen zu verbessern". Bis 2010 stünden dafür 23,5 Millionen Euro zur Verfügung.