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DGB kritisiert Müntefering-Äußerungen in Unterschichtendebatte

Demonstration in Dortmund

Die Gewerkschaften in Nordrhein-Westfalen üben deutliche Kritik an Äußerungen von Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD), es gebe keine Schichten in Deutschland. Wenn führende Politiker sich in der so genannten Unterschichtendebatte derart äußerten, zeige dies, dass "bei vielen in Berlin die Realität ausgeblendet" sei, sagte DGB-Bezirksvorsitzender Guntram Schneider am Dienstag in Düsseldorf. In Deutschland gebe es Armut, insbesondere aufgrund der Massenarbeitslosigkeit, betonte der Gewerkschafter. Die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" habe zu materiellen Problemen vor allem bei Alleinerziehenden und Familien geführt. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Fraktion, Norbert Röttgen (CDU), fordert vor dem Hintergrund der Diskussion eine Grundsatzdebatte über Armut und "Außenseitertum" in Deutschland.

Daher müsse hier nachgebessert werden. Ein "beträchtlicher Teil" der Bevölkerung habe die Hoffnung aufgegeben, sich "bürgerlich etablieren" zu können.

Zu einer Protestveranstaltung gegen die Politik der großen Koalition erwartet Schneider am Samstag in Dortmund bis zu 35.000 Teilnehmer. Auf der Demonstration mit anschließender Kundgebung wolle der DGB unter anderem gegen die geplante Gesundheitsreform, die Rente mit 67 und eine weitere Steuerentlastung für Unternehmen mobil machen.

Nach Angaben des DGB-Bezirksvorsitzenden soll die Kundgebung Auftakt zu einer Reihe von Protestaktionen des DGB sein. Weitere Demonstrationen sind am Samstag in Berlin, München, Stuttgart und Frankfurt am Main geplant.

Röttgen sieht "neue soziale Frage" in Deutschland

CDU-Geschäftsführer Röttgen sprach am Dienstag in Berlin von einer "neuen sozialen Frage". Die neue Qualität bestehe in der Verfestigung der Lebenssituation "vieler Menschen" als "Außenseiter" der Gesellschaft. Die Politik müsse hier neue Antworten finden. Mit der "alten Sozialpolitik" komme man hier nicht weiter, meint der Politiker. "Wir brauchen Integration statt nur Alimentierung", betonte Röttgen.

Es genüge nicht, einen möglichst kostengünstigen "Abstellplatz" für die Betroffenen zu finden, so Röttgen. Die Menschen hätten ein Recht auf eine würdevolle, aktive Teilhabe. Das Thema sei nicht nur ein Randphänomen, sondern gehe bis "in die Mitte der Gesellschaft". Röttgen mahnte, wenn die Integration dieser Menschen nicht gelinge, werde man auch das "Angstsyndrom" in der Gesellschaft nicht vertreiben können.

Pofalla: In sieben Jahren Rot-Grün ist der Anteil der Armen in Deutschland gestiegen

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla machte die rot-grüne Vorgängerregierung für die Entwicklung verantwortlich. Pofalla sagte, in sieben Jahren Rot-Grün sei der Anteil der Armen in Deutschland gestiegen.

Für Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) ist diese Einschätzung "falsch". Vielmehr habe Rot-Grün mit der Arbeitsmarktreform Menschen aus der Sozialhilfe geholt. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) verteidigte die Reform ebenfalls. "Hartz IV" sei nicht Ursache der Armut, sondern bringe sie nur an die Oberfläche.

Müntefering sagte, mit der "Hartz IV"-Reform hätten Sozialhilfeempfänger eine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Zugleich fordert der SPD-Minister größere Anstrengungen bei der Arbeitsvermittlung. Zudem müsse man auch denen, die arbeitslos seien und Schwierigkeiten hätten, sagen: "Ihr müsst Euch anstrengen. Ihr müsst auch die Jobs nehmen, die wir zur Verfügung stellen können."

Bildung, "Aufstiegsmöglichkeiten" und "einfache Tätigkeiten"

Bundestagsvizepräsident Thierse sagte: "Als 'Hartz IV' eingeführt wurde, haben wir ja nicht versprochen, die Arbeitslosigkeit abzuschaffen, sondern versucht, auf den globalisierten Arbeitsmarkt und auf die finanziellen Nöte des Sozialstaates zu reagieren. Besserung ist nicht eingetreten." Armut verfestige sich, wenn es Bildungsungleichheit, Arbeitslosigkeit und die Einschränkung von Aufstiegsmöglichkeiten gebe, sagte Thierse, obwohl die Politik als "Jobs" zunehmend "einfache Tätigkeiten" vorsieht. "Und unsere Gesellschaft ist von unten nach oben zweifelsohne undurchlässiger geworden", sagte Thierse.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, betonte, "Hartz IV" sei zwar nicht die Ursache zunehmender Armut. "Primär ist die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich." Die Arbeitsmarktreform habe aber "den Trend hin zu zunehmender Armut verstärkt". Zugleich forderte Sommer Konsequenzen aus der Diskussion. Dazu gehört eine Intensivierung der Bildungsanstrengungen für sozial Schwächere, eine Strategie gegen die Jugendarbeitslosigkeit und eine neue Verteilungsdiskussion in der Gesellschaft.

Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, sagte, ihn wundere, dass die zunehmende Armut plötzlich als neue Erkenntnis gehandelt werde. Die beiden letzten Bundeskanzler hätten abgestritten, dass es in Deutschland Armut gebe. Nun sei er froh, dass die Politik "mittlerweile zur Kenntnis nimmt, dass es in Deutschland eine wachsende Zahl von Menschen in Armut gibt".

Die Hauptursache hierfür sieht Hilgers in der steigenden Zahl der Langzeitarbeitslosen. Aber auch Hartz IV trage dazu bei. Dadurch, dass aus der einkommensabhängig gezahlten Arbeitslosenhilfe Sozialhilfe geworden sei, habe sich die finanzielle Lage für Viele "dramatisch verschlechtert".

Der Vorsitzende der Sozialkammer der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gert Wagner, sieht keinen Zusammenhang zwischen Armut und "Hartz IV". Das dahinter stehende Problem seien Bildungsarmut und Langzeitarbeitslosigkeit. "Wir schicken derzeit 20 Prozent eines Jahrgangs ohne verwertbaren Schulabschluss ins Leben. Denen droht lebenslange Armut", so Wagner.

Es ist fraglich, ob das allgemeine Chredo, mehr Bildung werde das Problem schon lösen, zutrifft. Auf den Umstand, dass auch gut ausgebildeten, hochqualifizierten Menschen allenfalls "Jobs" und "einfache Tätigkeiten" angeboten werden oder diese sich als schlecht verdienende "Selbständige" mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, geht kaum jemand ein. Eine Politik, die vor allem Jobs als Fensterputzer, Hausmeister und Haushaltshilfen begünstigt, sollte vielleicht nicht gleichzeitig mehr Bildung und Exzellenz anpreisen.