Zu Beginn der Sitzung sprach der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alejo Vidal Quadras, von "einer der längsten und komplexesten Abstimmungen in der Geschichte des Parlaments". Der Bericht des Italieners Guido Sacconi zu REACH wurde schließlich von 407 Abgeordneten bei 155 Gegenstimmen und 41 Enthaltungen angenommen.
Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) begrüßte das verbesserte Registrierungsverfahren. Das Parlament habe aber bei wichtigen anderen zur Entscheidung stehenden Punkten "diese konstruktive Linie verlassen", so VCI-Präsident Werner Wenning, im Hauptberuf Vorstandsvorsitzender des Chemieriesen Bayer. So seien etwa beim Geltungsbereich von REACH, beim Know-how-Schutz und beim Zulassungsverfahren Beschlüsse gefasst worden, die in eine völlig falsche Richtung gingen. Damit würden "die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft der chemischen Industrie in Europa erheblich belastet".
Nach Auffassung des Chemieverbandes kommt es nun auf den Ministerrat an, die entscheidenden Weichenstellungen zu REACH vorzunehmen. Die Industrie hofft auf Korrekturen der Parlamentsbeschlüsse zur Autorisierung: "Diese Beschlüsse würden zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen und damit Investitionen in heimische Produktionsstandorte behindern."
Zufrieden zeigte sich auch der Bundesverband der Tierversuchsgegner. Die Abgeordneten hätten "einige der wichtigsten Forderungen der Tierrechtler" angenommen. So müsse die Industrie vorhandene Daten austauschen, um doppelte Tierversuche zu vermeiden. Kosmetika sollten nun von REACH ausgenommen werden, um das bereits gesetzlich beschlossene Tierversuchs- und Vermarktungsverbot nicht zu gefährden. Zudem: Ein Teil der von der Industrie zu zahlenden Registrierungsgebühr solle für tierversuchsfreie Forschung verwendet werden.
Die Tierschützer verweisen auf eine Abschätzung des Bundesinstituts für Risikobewertung, wonach nach dem bisherigem Entwurf bis zu 45 Millionen Tiere leiden und sterben müssten. "Dies ist nicht nur ethisch nicht zu rechtfertigen, sondern auch wissenschaftlich unsinnig, denn Tierversuche bieten für Mensch und Umwelt keine Sicherheit", mein Corina Gericke vom Bundesverband Menschen für Tierrechte. Der Verband strebt ein Chemikalienprogramm ohne Tierversuche an.
Verschlechterungen sehen die Tierschützer bei einem akuten Giftigkeitstest für in geringen Mengen produzierte Chemikalien. Dies könne den qualvollen Gifttod unzähliger Tiere bedeuten, so die Befürchtung. Man müsse nun alles daran setzen, dass diese Tests mit tierversuchsfreien Methoden erfolgen. Erst in der letzten Woche habe EU-Industriekommissar Günter Verheugen angekündigt, er wolle Tierversuche "langfristig auf Null reduzieren". Noch hänge aber das Damokles-Schwert über Millionen Kaninchen, Hunden, Ratten, Maeusen und Fischen. Erst wenn den Absichtserklärungen von Politik und Industrie endlich auch Taten folgten, könne diese Gefahr gebannt werden, so Gericke.
Umweltverbände wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und Greenpeace sprachen von einem "Etappensieg für die Chemieindustrie". Die chemische Industrie habe sich weitgehend durchgesetzt. Einzig der Beschluss, dass die Chemiebranche gefährliche Substanzen schrittweise durch ungefährlichere ersetzen müsse, sei ein Erfolg für den Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz. Da die chemische Industrie dem Parlamentsvotum zufolge jedoch für Tausende von Chemikalien keine Sicherheitsdaten liefern müsste, werde das Auffinden gefährlicher Stoffe gleichzeitig torpediert.
Mit dem ursprünglichen REACH-Entwurf der Generaldirektion Umwelt der EU-Kommission sei die Verpflichtung beabsichtigt gewesen, 30.000 der rund 100.000 bekannten Chemikalien "ausreichend" auf ihre Gefährlichkeit testen zu müssen. Nach dem Willen des Parlamentes müssten nun zwei Drittel der von REACH erfassten 30.000 Substanzen "kaum noch" auf ihre gesundheits- und umweltschädigenden Eigenschaften untersucht werden. Die Testanforderungen würden deutlich unter den Anforderungen liegen, die heutzutage für neu anzumeldende Chemikalien gälten. Große Chemikalienhersteller müssten nun ihre Daten nicht mit kleinen und mittleren Unternehmen teilen, was kleinere Unternehmen benachteiligen würde.
Die aktuelle Parlaments-Fassung von REACH ist nach Auffassung der Verbände nicht in der Lage, Verbraucher und Umwelt ausreichend vor gefährlichen Chemikalien zu schützen, da die chemische Industrie für Tausende ihrer Stoffe "nicht einmal elementare Daten über deren toxische Wirkung vorlegen" müsste.
Der auf Druck der Chemiebranche ohnehin schon "stark verwässerte" Kommissions-Entwurf sei somit vom EU-Parlament nochmals massiv abgeschwächt worden. Nach Auffassung der Umweltverbände hat sich "vor allem die Mehrheit der deutschen EU-Parlamentarier zum verlängerten Arm der chemischen Großindustrie machen lassen". Es sei peinlich und verantwortungslos, wie Deutschland als größtes Mitgliedsland einseitig zugunsten der heimischen Chemieindustrie die Gefährdung von Millionen EU-Bürgern durch Chemikalien in Kauf nehme.
Die Verbände appellierten an den EU-Ministerrat, den Gesetzesvorschlag so zu stärken, dass ein ausreichender Schutz von Verbrauchern und Umwelt vor Chemikalien sicher gestellt sei. Um diese "einmalige Chance" zu nutzen, müssten vor allem die Datenanforderungen an die Chemieindustrie deutlich erhöht werden, "damit gefährliche Stoffe überhaupt erkannt und aus dem Verkehr gezogen werden können". Der Schutz von Frauen, Männern, Kindern und Umwelt darf nach Auffassung der Verbände nicht kurzsichtigen Interessen von Chemieproduzenten geopfert werden.
Gleichzeitig sollte der Ministerrat das positive Votum des Parlaments zum obligatorischen Ersatz gefährlicher Substanzen aufgreifen. Denn die Ankündigungen der künftigen Bundesregierung, REACH "grundlegend" zugunsten der heimischen Industrie abändern zu wollen, lasse vermuten, dass diese sich im Ministerrat für weitere massive Verschlechterungen einsetzen werde.
Schärfer noch protestierte die Verbraucherzentrale Bundesverband gegen den Parlamentsbeschluss. Dadurch sei eine konsequente Registrierung, Untersuchung und in der Folge Verbannung bedenklicher Substanzen aus dem Verbraucheralltag in weite Ferne gerückt. "Dies gefährdet nicht nur die Gesundheit der Verbraucher, sondern auch die Arbeitsplätze der Zukunft", meint Verbandsvorstand Edda Müller. "Die Abgeordneten haben mit ihrer Entscheidung die Milliardenkosten für das Gesundheitswesen durch gefährliche Chemikalien ausgeblendet." Da helfe auch "das Bekenntnis" des Europaparlaments wenig, gefährliche Stoffe durch sichere Alternativen zu ersetzen.
Die Verbraucherschützer bedauern, dass die Industrielobby "mit ihrer monotonen Wiederholung", wie teuer REACH sei und wie viele Arbeitsplätze verlorengingen, durchgedrungen sei. Eine Studie der europäischen Industrieverbände, die klargestellt habe, dass durch REACH nur geringe Kostenerhöhungen drohten und keine Marktanteile verloren gingen, sei vom EU-Parlament ebenso ungehört geblieben wie Warnungen von Verbraucher- und Umweltverbänden, der Gewerkschaften und des Umweltbundesamtes über die europaweit geschätzten gesundheitlichen Folgekosten in dreistelliger Milliardenhöhe.
In ihrem eigenen Interesse hätte die chemische Industrie ein verbraucherfreundliches REACH nicht boykottieren sollen, meinen die Verbraucherschützer. Denn durch die Entwicklung von Ersatzstoffen habe REACH ein hohes Innovationspotential. Eine vorsorgeorientierte Chemikalienpolitik stärke zudem das Vertrauen der Verbraucher, und beides sei "gut für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft". Durch eine "weniger fahrlässige Politik der richtigen Prioritäten" könne manche Krankheit verhindert und neue Zukunftstechnologie gefördert werden.
Die Verbraucher seien täglich mit 100.000 chemischen Substanzen umgeben, "die niemals auf ihre Gefahren für Mensch und Umwelt hin untersucht wurden". Die Zahl der zu registrierenden Substanzen sei "im langjährigen Abstimmungsprozess ohnehin schon auf 30.000 gefährliche Stoffe reduziert worden". Nun sollten nach dem Votum des Europaparlaments lediglich etwa 10.000 Substanzen erfasst werden. Zudem müsse die Industrie weit weniger Daten bereitstellen, als ursprünglich von der Umwelt-Generaldirektion der Kommission vorgesehen.