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Sicherheit deutscher Atomkraftwerke - Gabriel fordert Antworten der Länder

Störfall-Chronik der IPPNW

Nach Auswertung der neuesten Berichte der schwedischen Atomaufsicht über den Beinahe-Unfall im Atomkraftwerk Forsmark-1 hat sich Bundesumweltminister Sigmar Gabriel am Montag in einem Schreiben an die für die Atomaufsicht zuständigen Länderminister gewandt und einen "lückenlosen Sicherheitsnachweis" für die deutschen Kernkraftwerke gefordert. "Der Vorfall in Schweden war so gravierend, dass die in Deutschland für kerntechnische Sicherheit zuständigen Minister ihrer Verantwortung nicht gerecht würden, wenn sie sich lediglich auf die Beurteilungen und Versicherungen der Betreiber verlassen würden. Konkret soll geklärt werden, ob Kurzschlüsse außerhalb von Atomkraftwerken zum vollständigen Ausfall der Notstromversorgung führen kann. Die atomkritische Ärzteorganisation hält die Fragestellung für verkürzt und veröffentlichte eine "Chronik gefährlicher Kurzschlüsse und Blitzschläge in deutschen Atomkraftwerken". Demnach kam es 1977 aufgrund eines witterungsbedingten Kurzschlusses zum "Totalschaden" des Atomkraftwerks Gundremmingen A. Zuletzt habe am 23. August 2004 ein Kurzschluss zur Reaktorschnellabschaltung geführt.

Gabriel hält eine gründliche und detaillierte Prüfung der Anlagendokumentationen und der Anlagen vor Ort für erforderlich. Die Prüfung müsse klären, ob man derzeit bereits lückenlos nachweisen könne, dass sich "die Vorfälle in Schweden" in deutschen Anlagen nicht ereignen könnten. Zu untersuchen sei in diesem Zusammenhang insbesondere, "ob Spannungsimpulse und Überspannungen zu Schäden in der Regelung der Notstromaggregate führen können und ob nachweislich gesichert ist, dass bei einem Störfall die sicherheitstechnischen wichtigen Steuerungs- und Überwachungseinrichtungen weiterhin ausreichend mit Strom versorgt werden".

Wenn "gleichartige" Störfälle nicht nachweislich ausgeschlossen werden könnten, sei zu klären, "ob dann alle Maßnahmen ermittelt und umgesetzt sind, die notwendig sind, um zukünftig die erforderliche Sicherheit bei gleichartigen Fällen zu gewährleisten. Außerdem muss geklärt werden, ob weitere Untersuchungen folgen müssen."

"Falls Nachweislücken vorliegen, die so gravierend sind, dass die Sicherheit des Anlagenbetriebs in Frage steht, dann ist der Betrieb der Anlage bis zur Klärung der Sicherheitsfragen vorläufig zu untersagen und die Bundesaufsicht sofort zu informieren", so Gabriel.

Im Bundesumweltministerium geht man auf der Basis der Betreiberangaben offenbar davon aus, dass sich "ein ähnliches Ereignis" in deutschen Kraftwerken nicht ereignen könne. Es seien jedoch "nicht alle Fragen geklärt, um ein solches Ereignis in deutschen Anlagen ausschließen zu können". Das Bundesumweltministerium beabsichtigt, "die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke bei einem solchen Störfall" dann zu bestätigen, "wenn die Nachweise hierfür detailliert geführt sind".

Gabriel: Fehler dürfen nicht mehrfach auftreten

Der Bundesumweltminister hat zudem eine Untersuchung veranlasst, um zu klären, ob der im Kernkraftwerk Forsmark zu Tage getretene technische Versagensmechanismus aufgrund von bereits zuvor bekannten Informationen möglicherweise hätte verhindert werden können, wenn diese Informationen international besser gebündelt, ausgewertet und kommuniziert worden wären. "Wir können es uns auf Grund des hohen Risikopotentials der Atomkraft weder national noch international leisten, Fehler erst dann zu erkennen, wenn Sie mehrfach aufgetreten sind und zu ernsten Sicherheitsbeeinträchtigungen führen", so Gabriel.

Die gravierende Bedeutung des Störfalls im Atomkraftwerk Forsmark in Schweden liegt nach Darstellung des Bundesumweltministeriums darin, "dass ein Kurzschluss außerhalb der Anlage wesentliche sicherheitstechnische Systeme lahm legte und zum Ausfall wichtiger Überwachungseinrichtungen in der Warte des Kraftwerks führte". Für rund zwanzig Minuten – bis zur Inbetriebnahme zusätzlicher Notstromdiesel, die per Hand hätten gestartet werden müssen – habe eine Situation großer Unsicherheit bestanden.

Eine Chronik gefährlicher Kurzschlüsse und Blitzschläge in deutschen Atomkraftwerken

Atomkritiker der IPPNW halten die Sicherheitsüberprüfungen der Atomaufsicht für verkürzt. Kein Störfall sei wie der andere und die Vergangenheit zeige, dass es aufgrund von Kurzschlüssen und Blitzschlägen zu drastischen Ereignissen kommen könne. Ebenso wie im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark ein Kurzschluss außerhalb der Anlage einen Beinahe-GAU ausgelöst habe, sei auch vor knapp 30 Jahren ein externer Kurzschluss die Ursache für "den Großunfall und Totalschaden von Block A des deutschen Atomkraftwerks Gundremmingen gewesen".

Am 13. Januar 1977 ist es den Angaben zufolge in den beiden abführenden Stromleitungen des Atomkraftwerks Gundremmingen nach einem Kälteeinbruch und einem Blitzschlag zu Kurzschlüssen gekommen, so dass das Atomkraftwerk seinen Strom nicht mehr ableiten konnte. Aufgrund von mehreren Fehlern in der Steuerung des Atomkraftwerks sei es zur Schnellabschaltung gekommen, was zu einem schnellen Druckanstieg und zur Dampfabblasung ins Reaktorgebäude geführt habe und in Folge dessen zu Rissen in Sicherheitsventilen und Rohrleitungen. "Schon nach rund zehn Minuten stand im Reaktorgebäude das Wasser drei bis vier Meter hoch, die Temperatur war auf brisante 80 Grad Celsius angestiegen." Das Atomkraftwerk habe einen "Totalschaden" erlitten und sei nie wieder in Betrieb gegangen.

Vor diesem Hintergrund hält es die IPPNW für falsch, jetzt nur zu überprüfen, ob "gleichartige" Störfälle wie in Schweden auftreten können. "Es mag zwar im Interesse der Atomkraftwerksbetreiber und der Atomaufsicht liegen, die Wahrnehmung der Öffentlichkeit auf diese Detailfrage zu beschränken." Sie lenke aber "geschickt von dem grundlegenden und ungelösten Problem ab, dass Unwetter und Kurzschlüsse in Atomkraftwerken jederzeit zur Katastrophe führen können. Die derzeitig häufigen Sommergewitter mit Blitzschlägen stellen eine akute Gefahr dar."

Recherchen der Organisation ergaben eine ganze Reihe von - laut IPPNW - "vergleichbaren Störfällen" in deutschen Druck- und Siedewasserreaktoren. Genannt werden die folgenden Fälle:

  • AKW Gundremmingen am 13. Januar 1977: Kälte und Blitzschlag, Kurzschluss, Abfangen auf Eigenbedarf misslingt, Notstromfall, Druckanstieg und Dampfabblasung, AKW-Totalschaden, endgültige Stilllegung
  • AKW Neckarwestheim-1 am 6. Juni 1982: Blitzschlag in das 220-kV-Hochspannungsnetz, Abfangen auf Eigenbedarf misslingt, die automatische Umschaltung auf das Reservenetz misslingt, Notstromfall
  • AKW Isar-1 am 29. Mai 1983: Blitzschlag, Ausfall mehrerer Elektronikkarten und der Speisewasserbehälterfüllstandsanzeige, Reaktor und Turbinenschnellabschaltung
  • AKW Krümmel 4. August 1984: Blitzschlag, Ausfall von Messkreisen, Leistungsreduzierung
  • AKW Biblis B am 4. Mai 1986: Blitzschlag während der Revision, Abschaltung der Reservenetzeinspeisung, Notstromfall
  • AKW Biblis am 19. April 1988: Explosion eines 220-kV-Stromspannungswandlers, Kurzschluss, Ausfall des Reservenetzanschlusses, Doppelter Notstromfall in Biblis Block A und Block B
  • AKW Brokdorf am 23. Februar 2003: Sturm, Kurzschlüsse in Freileitungen des 400-kV-Netzes in Kraftwerksnähe, Abschaltung von AEG-Gleichrichtern im Notspeisegebäude; Teilausfall der Notstromversorgung
  • AKW Biblis B am 8. Februar 2004: Sturm, Kurzschluss im 220-kV-Netz, fehlerhafte Netztrennung, Abfangen auf Eigenbedarf misslingt, Notstromfall, Schnellabschaltung, Teilausfall der Notstandsstromeinspeisung für Block A
  • AKW Brunsbüttel am 23. August 2004: Kurzschluss in einer Kabelverbindung des Eigenbedarfs vermutlich aufgrund von Alterungserscheinungen und nachgerüsteten Blitzschutzmaßnahmen, Kabel verschmorte auf 1 Meter Länge, Reaktor- und Turbinenschnellabschaltung, Nichtverfügbarkeit eines Notstromdiesels

Greenpeace fordert Abschied der CDU von der Atomenergie

Die Umweltorganisation Greenpeace fordert angesichts des schweren Störfalls in Schweden die CDU/CSU auf, sich endlich von ihrem Atomkurs zu verabschieden. Die Probleme dort zeigten, dass Atomkraft eine Gefahr für den Menschen darstellt. Zudem sei sie ein Risiko für die Stromversorgung.

"Atomkraftwerke sind nur sicher, wenn sie abgeschaltet sind", sagte Heinz Smital von Greenpeace. "Es hat nicht viel gefehlt, und es wäre in Schweden zu einer Kernschmelze gekommen. Da müssen doch selbst die Damen und Herren von CDU und CSU einsehen, dass der Atomausstieg keine Forderung ideologischer Atomkraftgegner ist, sondern ein Gebot der Vernunft."

Der Zwischenfall belege auch, dass Atomkraft kein Standbein für eine sichere Stromversorgung sein könne. "Mit Großkraftwerken, die wegen Hitze, technischer Mängel oder Störfällen vom Netzgenommen werden müssen - in Schweden immerhin vier der zehn Atomkraftwerke auf einmal - geht das aber nicht", so Smital.

Den deutschen Kraftwerksbetreibern und den Energieversorgungsunternehmen Eon, Vattenfall EnbW und RWE wirft Greenpeace vor, den Vorgang zu verharmlosen, "ohne die genauen Hintergründe des Zwischenfalls im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark zu kennen". Nicht einmal die schwedische Atomaufsichtsbehörde könne schon genau sagen, "wie und warum es in Forsmark zu dem schweren Zwischenfall kam. Wie können die deutschen Kraftwerksbetreiber da einen gleichen Unfall in Deutschland bereits ausschließen?" Die Tatsache, dass sich die Notstromversorgungssysteme in deutschen Atomkraftwerken "nicht zu 100 Prozent mit denen in Forsmark decken, heißt noch lange nicht, dass das Problem nicht auch hier auftreten könnte". Erst nach Abschluss einer genauen Untersuchung und Ursachenklärung könne sich zeigen, ob ähnliche Schwachstellen auch in den ähnlichen Notstromsystemen in Deutschland existierten.

Greenpeace fordert den Ausstieg aus der Atomkraft. Nur Erneuerbare Energien und steigende Effizienz sowie Energieeinsparung könnten die Energieversorgung der Zukunft sicher und umweltgerecht gewährleisten.

CDU/CSU: "Es gibt derzeit keinen Grund, die Sorgfaltspflicht der Kraftwerksbetreiber in Frage zu stellen"

Nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gibt es derzeit keinen Grund, die Sorgfaltspflicht der Kraftwerksbetreiber in Frage zu stellen. Die Ursachen für die Betriebsstörung im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark müssten schnell geklärt werden, meint die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Katherina Reiche. Es sei auch zu überprüfen, ob ein solcher Vorfall in deutschen Kernkraftwerken "prinzipiell" möglich gewesen wäre.

Voreilige Schlussfolgerungen oder pauschale Vorverdächtigungen seien jedoch unangebracht. Die Aufsichtsbehörden der Länder kämen ihrer Aufgabe engagiert und mit großer Erfahrung nach. Die Sicherheit von Kernkraftwerken habe für die Union "die höchste Priorität", so Reiche. "Wir werden uns deshalb auch weiterhin für den Einsatz höchster Sicherheitsstandards in deutschen Kernkraftwerken einsetzen, damit diese auch in Zukunft zu den sichersten der Welt zählen."

SPD: "Die größten Risiken liegen im Unvorhergesehenen"

Etwas anders fiel das Statement der SPD-Bundestagsfraktion aus. "Forsberg untermauert unsere Diagnose: Die Beherrschbarkeit der Atomenergie ist und bleibt eine Fiktion", meint Christoph Pries, SPD-Berichterstatter im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Der "geordnete Atomausstieg" - nach dem in Deutschland noch rund 20 Jahre lang betrieben werden können - sei die beste Vorsorge.

Auch wenn die Details noch weiter aufgeklärt werden müßten, sei es "alarmierend, dass es in einem High-Tech-Land wie Schweden zu einer derart kritischen Situation kommen konnte". Ein "vergleichsweise banaler und simpler Defekt", der Ausfall eines Wechselrichters nach einem Blitzeinschlag, habe uns den Kern der Atomdiskussion mit aller Dramatik vor Augen geführt, so Pries: die Sicherheitsfrage. "Es ist schon fast eine makabre Ironie: Nicht die "vielbeschriebenen maroden osteuropäischen oder russischen Atommeiler, sondern ein von den Konzernen E.ON und Vattenfall betriebenes 'modernes' Atomkraftwerk liefert den Beweis dafür, dass die größten Risiken im Unvorhergesehenen liegen."