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Veit Wilhelmy: »Rückenwind für den politischen Streik«

Nach den Gewerkschaftstagen: aktualisierte Materialien zum politischen Streik erschienen

Veit Wilhelmy Rückenwind für den politischen StreikIn den Gewerkschaften und Parteien des linken Spektrums ist Bewegung in die Debatte über den politischen Streik gekommen. Ein Resultat ist die verlagsfrische Publikation des „Dritten Bands“ zu diesem Thema, der sich bemüht, die Ergebnisse der Diskussionen in den jeweiligen Öffentlichkeiten darzustellen und kritisch zusammenzufassen. Kritische Urteilsbildung und Anregungen für weitere Aktivitäten, Diskussionen und Anträge dürfen als Absicht auch dieser Publikation unterstellt werden. Wie die beiden vorherigen Bände liegt sie in lesefreundlicher, zweifarbiger DIN-A4-Broschur vor, ist komfortabel layoutet, gut gegliedert, abwechslungsreich mit Fotografien von Aktionen sowie Tabellen angereichert und als Arbeitsmaterial in Form von Textauszügen mit genauen Quellenhinweisen ausgestattet, ergänzt um ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis aller Texte am Schluss. LeserInnen können im Prinzip auf jeder Seite einsteigen. Autor ist Veit Wilhelmy, Wiesbadener Gewerkschaftssekretär der IG BAU und Stadtverordneter der Partei „Die Linke“.

Mehr als ein Lippen-Bekenntnis?

„Just funny memories?“ Die aktualisierte Materialiensammlung zum politischen Streik beginnt, thematisch passend, mit einem Erinnerungsfoto, das einen ‚Klartext gestikulierenden’ britischen Bergarbeiter vor einer geschlossenen Front von Polizisten zeigt. Es stammt aus dem Juni 1984, der historisch zugespitzten Auseinandersetzung zwischen der Pionierin neoliberaler Kürzungs-Politik, Premierministerin Maggie Thatcher, und den streikenden Bergarbeitern. Die Bergarbeitergewerkschaft verlor, ihr Vermögen wurde per Gerichtsbeschluss beschlagnahmt. (Nebenbei: Großbritannien ist eines von drei Ländern der EU, in denen, vergleichbar mit der BRD, der politische Streik illegal ist.)

In seinem Vorwort stellt Tom Adler, Betriebsrat der IG Metall bei Daimler in Untertürkheim, angesichts der „von der Troika (EU, EZB, IWF)“ in der gegenwärtigen Krise durchgesetzten „flächendeckenden Lohnsenkung“ am Beispiel Griechenlands fest, dass der politische Streik „schneller als man denkt“, nötig werden könnte, „um das Streikrecht selbst zu verteidigen, das bis heute zwar immer umkämpft, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt war“ (S. 11).

Auf solche Verortungen und Bezüge zielen auch die strukturierenden Leitfragen des Buchs: „Welche Themen eignen sich?“, und: „Sind der gewerkschaftliche Wille sowie die gesellschaftliche Stimmung reif?“ für den politischen Streik (S. 5). Es ist eine der Stärken des Autors Veit Wilhelmy, dass er ein Fazit oder eine reduktionistische These als Universalschlüssel zum politischen Streik nicht ausformuliert, und das Buch, den Anspruch einer Materialsammlung, die Diskussionen anregt, nicht überschreitet. Es ist anscheinend, u.a., durch die Publikationen des Autors Veit Wilhelmy zum Thema gelungen, eine Blockade in der gewerkschaftsöffentlichen Diskussion zu räumen, wie sich an den Anträgen auf den Gewerkschaftstagen ablesen ließe für den ersten Anlauf nach sehr langer Zeit ein realistischer Erfolg. Ob aus dem Wissen muss ein Können wird, dazu gehört mehr als ein Anlauf. An den Gründen für den politischen Streik als zentrales strategisches Mittel hat sich, das bemüht sich das Buch zu zeigen, nichts geändert. Die Zeit zum Handeln ist so reif, wie überzeugte Akteure ihre Überzeugungen bereit sind, zu vertreten.

Im Großen und Ganzen gliedern sich die Inhalte des Bandes nach den Schwerpunkten der Antragsdiskussionen zu diesem Thema auf den Bundeskongressen von IG Metall und ver.di im Jahr 2011. Ergänzt wird dies durch Stellungnahmen aus Politik und Gesellschaft, internationale, sowohl quantitative als auch qualitative Vergleiche, informierende Artikel zu relevanten politischen und rechtsgeschichtlichen Hintergründen sowie einen perspektivbildenden Grundlagenaufsatz von Arnold Köpcke-Duttler zur juristischen Doktrinproblematik des Sozialstaatsgebots in Bezug auf das Arbeitskampfrecht. Darüber hinaus finden sich Materialien zur Diskussion um das gemeinsame „Eckpunktepapier“ von DGB und BDA zur „Tarifeinheit“, zum Kampf gegen das Streikverbot für Beamte im öffentlichen Dienst und – abschließend – zum Umgang der evangelischen Kirche (EKD) mit dem Arbeitskampfrecht in ihrem Herrschaftsbereich als Arbeitgeber. Nicht fehlen darf auch der „Wiesbadener Appell“, eine Unterschriftensammlung „Für ein umfassendes Streikrecht“ (S. 13-15), die es seit März bis Anfang Dezember 2012 auf über 7.000 Unterschriften gebracht hat. (Im Internet unter: http://www.politischer-streik.de).

Zu den Beiträgen im Einzelnen: Dokumentiert sind acht Sachanträge und ein Satzungsantrag zum politischen Streik am Gewerkschaftstag der IG Metall 2011 (S. 20 25), Ausschnitte der Diskussion darüber (S. 26 28) und eine kritische Stellungnahme der „Gewerkschaftslinken“ (S. 29 30). Der Kongress war dem Vorschlag der Antragsberatungskommission gefolgt und hatte die vorgeschlagene Entschließung E1 angenommen, die keine Aufnahme des politischen Streiks in die Satzung beinhaltet und zuversichtlich auch weiterhin auf die Gestaltungsmacht in den Grenzen des bisherigen gewerkschaftlichen Handlungsrahmens vertraut.

Der ver.di-Bundeskongress 2011 mit 42 Sach- und 15 Satzungsanträgen (S. 39 48) sowie Auszügen des Tagesprotokolls (S. 49–65) bietet eine vom Material her zähe, aber durchaus lohnende Lektüre und vermittelt einen Eindruck von der „unsichtbaren Hand“ der Kongressleitung bzw. der Antragskommission beim Umgang mit dem Thema. Im Ergebnis entschied sich der Kongress auch hier - bei nicht unerheblichen Diskussionen - für den Vorschlag der Antragsberatungskommission, die Satzungsanträge zum politischen Streik abzulehnen. Für diese wäre eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen. Ausschlaggebend, dürfte gewesen sein, dass ein Bundesvorstand sich nicht per Satzung auf den normativen Handlungsdruck verpflichten lassen möchte, einen politischen Streik ggf. auch operativ umzusetzen. Gefolgt ist die Ablehnung allerdings von der Aufforderung, das Recht auf den politischen Streik im Grundgesetz zu regeln, wofür „nur“ eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig ist. Eine Verschiebung auf den „Sankt Nimmerleinstag“. Bleibt es also bei einem Bekenntnis zum politischen Streik mit den Lippen? Die klaren Aussagen von Bundesvorsitzenden Frank Bsirske für das Kampfmittel des politischen Streiks (S. 33, S. 116ff.) sind eigentlich mehr als nur der „Hauch einer Stimme“. Doch erst mit einer Grundgesetzänderung, mit der staatlichen Erlaubnis zum politischen Streik wähnt man sich offenbar wieder auf der sicheren Seite.

Methodisch bemerkenswert, so bleibt festzuhalten, ist die Harmonie, mit der die Vergabe der Ordnungszahlen für die rubrizierten Anträge und die rhetorische Strategie der Antragskommission bis ins Detail übereinstimmte. „Es passt“, meinte einmal süffisant ein namhafter Soziologe bei einer sozialwissenschaftlichen Grundlagendiskussion der sechziger Jahre, wenn das Schloss schon so konstruiert werde, dass der begriffliche Schlüssel auch passe. Der Kommentar der Gewerkschaftslinken: „verwässert“, „verpasste Chance“ usw. (S. 69).

Lesenswert sind die Texte zum Generalstreik beim Kapp-Lüttwitz-Putsch vor mehr als 90 Jahren (S. 147-156), der „vergessene“ Generalstreik am 12. November 1948, kurz vor Gründung der BRD, in dem neun Millionen Menschen wegen der Versorgungslage in den Westzonen in den Ausstand traten (S. 133 134), und unbedingt „Wie das politische Streikrecht verloren ging“ von Werner Sauerborn (zuerst in express, Nr. 1/2010) (S. 140-146), der nach einer kurzen historischen Rekonstruktion eine realistische Analyse der gegenwärtigen Situation mit Schritten zur Erweiterung des Streikrechts verbindet. Anregend und besonders empfehlenswert ist auch der Aufsatz von Prof. Dr. Arnold Köpcke-Duttler (S. 157-171) zur Beziehung von Sozialstaatsgebot und Arbeitskampfrecht. Der Autor zeigt im Anschluss an u.a. Wolfgang Abendroth tiefe, normativ unausgeschöpfte Ressourcen für weitere Argumentationen auf, die sich an neuere Diskussionen zur Demokratietheorie anschließen und diese in Richtung einer radikalen Demokratisierung substanziell erweitern. Der Autor argumentiert vor allem damit, dass durch die Transformation zum globalisierten Kapitalismus die „traditionelle ... Parität der Kampfparteien“ bei z.B. „Standortverlagerungen“ nicht mehr bestehe, was von einer geänderten Rechtsprechung zum Streikrecht berücksichtigt werden müsse (S. 165): Angesichts neuer Kampfformen und Kampfkonstellationen sei „zur Wiederherstellung der Kampfparität eine Änderung der Rechtsetzung und Rechtsprechung zum Streikrecht unbedingt erforderlich. In einer Situation ökonomischer und gesellschaftspolitischer Defensive ist eine Ausweitung des Streikrechts unabdingbar »bei Strafe einer nachhaltigen Marginalisierung der organisierten Arbeiterbewegung«“ (S. 165).

Die Diskussion um das Eckpunktepapier von VDA und DGB zur „Tarifeinheit“ – ein genialer Regiepatzer mit anschließendem Kontrollverlust ist gut dokumentiert und inhaltlich aufschlussreich in Bezug auf Interessenbildung, Ziele, staatliche Arrangements, Konkurrenz und Strategien von Verbänden (S. 157 213). Garniert wird sie mit einem köstlichen „Familienfoto“ von Michael Sommer (DGB) und Dieter Hundt (BDA). Schockierend können dagegen die Zahlen wirken, denen zufolge acht Einzelgewerkschaften des DGB mit etwas über sechs Millionen Mitgliedern (2010) (S. 181) inzwischen etwa 115 Nicht-DGB-Verbände, mit etwas unter zwei Millionen Mitgliedern gegenüberstehen (S. 182ff.).

Im Abschnitt über das Streikrecht der Beamten werden einige Erfolge der GEW geschildert (S. 213 224). Der Schlussabschnitt über das Streikrecht und die Repräsentation von ArbeitnehmerInnen-Interessen bei der evangelischen Kirche (S. 225 243) endet mit einem ausführlichen Schreiben des Autors Veit Wilhelmy an die entsprechenden Führungsgremien, in dem er angesichts des von den Kirchen praktizierten Gerechtigkeitsideals und des Umgangs mit Arbeitnehmerrechten seinen Austritt begründet. Auch diese zuletzt beschriebenen Kapitel zu den Themen Tarifeinheit, Beamte und Kirchen bieten in der Schilderung von Abhängigkeiten und Herrschaftsmomenten viel Stoff für die gedankliche Grundlegung erfolgreicher Strategien zur Durchsetzung eines erweiterten Streikrechts und zur Überwindung anachronistischer Legitimationsmuster kapitalistischer Herrschaft letztlich bedürfen sie des selbstständigen Handlungsvollzugs im praktizierten Streik.

Veit Wilhelmy: »Rückenwind für den politischen Streik« Aktuelle Materialien, Band 3, Fachhochschulverlag, Frankfurt a.M., 2012, 247 S., ISBN 978-3-943787-00-6, 20 Euro. Bestellung direkt bei: veit.wilhelmy-(ÄT)-t-online.de

Insgesamt ist der „Dritte Band“ mit seiner Vielzahl guter Beiträge ein „Muss“ in der konkreten Weiterführung der Debatte hin zu ihrem praktisch vollzogenen Begriff.

Joachim John, ver.di Wiesbaden, ist Schriftsetzer und arbeitet u.a. im Landesfachbereichs-vorstand Hessen des Fachbereichs 8 (Medien) mit.

Dieser Artikel wurde im „express Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“, Nr. 5/2012, 50. Jahrgang, S. 15 ff. veröffentlicht