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Lafontaine und Müntefering diskutieren über die Rente

Demographie oder Produktivität?

Die Opposition hat die geplante Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre im Bundestag scharf kritisiert. Links-Fraktionschef Oskar Lafontaine sagte am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde des Parlaments, längere Lebensarbeitszeiten seien "schlicht schwachsinnig". "In unserem Land suchen 5 Millionen Menschen Arbeit." Aber die einzige Antwort, die die Bundesregierung gebe, sei, dass diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben länger arbeiten müssten. Sozialminister Franz Müntefering (SPD) sagte in seinen Redebeitrag, "wir wollen mehr Arbeit für diejenigen, die 50, 55 und älter sind". Auf den Zwischenruf seitens der Linkspartei "Wie denn?" gab der Minister die Antwort: "Wir bereiten uns darauf vor, dafür zu sorgen, dass die 50-, die 55- und die 60-Jährigen in dieser Gesellschaft wieder eine Chance haben." Außerdem sagte Müntefering, man werde "diese Debatte in diesem Jahr 2006 zu führen und im Verlauf des Jahres Entscheidungen zu treffen haben".

Während Müntefering Rentenanpassungen wegen der demographischen Entwicklung als zwangsläufig darstellte, bezeichnete Lafontaine diesen Zusammenhang als "falsch". Für die Finanzierbarkeit der Renten sei weniger die Zahl der Kinder entscheidend als vielmehr "die Produktivität einer Volkswirtschaft".

Müntefering skizzierte die demographischen Entwicklung. "Wir leben sechs bis sieben Jahre länger als die, die 1960 vergleichbar alt waren; aber wir arbeiten im Schnitt nicht sechs oder sieben Jahre länger, sondern fünf Jahre kürzer. Es ist eine ganz einfache Rechnung: Das kann nicht aufgehen, wenn man hier nicht eingreift und das systematisch verändert", so Müntefering.

"Die Lebensarbeitszeit ist kürzer, als sie je war. Wir gehen im Schnitt mit 21 Jahren in den Beruf und mit 60 Jahren heraus", so Müntefering. Von den 55-Jährigen und Älteren seien in Deutschland noch 42 Prozent berufstätig. In Skandinavien seien es 70 Prozent. "Lasst die Alten früh raus, damit die Jungen rein können", sei die Politik seit den 1980er Jahre gewesen. Diese Politik wollte der SPD-Minister jedoch "nicht einer Partei oder Gruppe zuordnen".

Die Großkonzerne hätten das "nach folgender Melodie" organisiert: "kurzer Sozialplan, lange Zahldauer Arbeitslosengeld, mit Abschlag in die Frühverrentung hinein." Durch die sozialen Sicherungssysteme seien die personalpolitischen Entscheidungen der großen Unternehmen mit organisiert worden.

"Eingliederungszuschüsse" als "Chance" für Ältere

Im letzten Jahr habe man 30.000 Älteren "mit Eingliederungszuschüssen eine Chance gegeben". Das sei eine Art Kombilohn und eine Sache, die man verbreitern müsse. Ältere Menschen müssten ja nicht zwingend auf dem Bau arbeiten, sie könnten auch eine altengerechte Arbeit ausüben. "Hier wird sich auch etwas finden lassen", hofft der Bundesminister. "Das muss man nur wollen." Man kümmere sich ganz besonders um die Eingliederung von Älteren. 250 Millionen Euro stünden dafür zur Verfügung. "Das alles werden wir aber noch systematisieren", so Müntefering.

Damit wandte sich der Minister ab von der Fragestellung, wo die Menschen bis 67 Jahre arbeiten sollten. Müntefering hob statt dessen darauf ab, dass die Entwicklung der Löhne und die Balance im Finanzierungssystem überhaupt "ganz wichtig" sei. "Was machen wir mit der Riester-Rente?", fragte Müntefering und verwies auf den "Dreiklang" zwischen "versichert durch Beiträge, versichert durch die Staatskasse" und privater Vorsorge.

Die Bundesregierung habe beschlossen, dass die Renten zum 1. Juli dieses Jahres nicht gesenkt werden. Die Rentenversicherungsbeiträge sollten von 19,5 Prozent auf 19,9 Prozent erhöht werden. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sollten von 6,5 auf 4,5 Prozent gesenkt werden. "Das heißt, dass im Ergebnis im nächsten Jahr die Beiträge zur Sozialversicherung um 1,6 Prozentpunkte sinken: 0,8 Prozentpunkte für die eine und 0,8 Prozentpunkte für die andere Seite. Das ist die Wahrheit. Das machen wir, weil wir eine stabile Situation herbeiführen wollen."

"Wir im Kabinett haben entschieden, dass in den Jahren 2007 bis einschließlich 2011 nichts passiert"

In diesen Tagen werde der Rentenversicherungsbericht abgestimmt. Die Frage bezüglich der Erhöhung des Renteneintrittsalters sei gewesen: "Schreiben wir in den Rentenversicherungsbericht etwas hinein, was wir in zwei oder drei Monaten wieder korrigieren müssen, oder schreiben wir das hinein, was in unserem Koalitionsvertrag steht? Gemeint ist, dass wir das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöhen und dies über einen längeren Zeitraum, aber bis spätestens 2035 machen. Wir im Kabinett haben entschieden, dass in den Jahren 2007 bis einschließlich 2011 nichts passiert", sagte der Minister.

Doch "im Jahre 2012 beginnt der Anstieg um einen Monat pro Jahr", sagte Sozialminister Münetefering am 9. Februar des Jahres 2006. Wer dann im Jahr 2012 65 Jahre alt sei, bekomme seine Rente mit 65 Jahren und einem Monat. "Das wird so über 12 Jahre gehen", so Müntefering weiter. "Dann ist das erste Jahr aufgearbeitet. Anschließend geht es in einem schnelleren Tempo mit zwei Monaten pro Jahr weiter. Das haben wir vereinbart."

"Diejenigen, die lange berufstätig sind ..."

"Diejenigen, die lange berufstätig sind" und deshalb lange in die Sozialversicherung eingezahlt hätten, sollten auch in Zukunft mit 45 Versichertenjahren im Alter von 65 die Rente "ohne Abschlag" bekommen. Ein Maurer, der mit 63, 64 oder 65 Jahren seine 45 Versicherungsjahre erreiche, bekomme mit 65 Jahren "seine unreduzierte Rente". Das betrifft nach Angaben von Müntefering "etwa 40 bis 45 Prozent all derer, die in diese Situation kommen".

Mit "Qualifizierungsmöglichkeiten" sollen die 45- bis 55-Jährigen "wieder im Erwerbsleben dabei sein" können. Die große Koalition habe sich Aufgaben vorgenommen, die nicht leicht seien. "Ich behaupte nicht, dass jeder Akzent, den wir setzen, immer gleich gelingen wird", sagte der Minister. Aber die Intention, die dahinterstecke, nämlich in dieser Legislaturperiode die Situation für die älter werdenden Menschen am Arbeitsmarkt zu verbessern, treibt ihn an. Müntefering: "Wir sind auf dem richtigen Weg."

Lafontaine: "Das ist logischerweise ein Beschluss, die Renten zu kürzen"

Links-Fraktionschef Oskar Lafontaine verwies in seinem Redebeitrag auf viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich die Frage stellten, welches Ansinnen die Bundesrepublik mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters verfolge und "ob die Bundesregierung noch weiß, was in Wirklichkeit im Land passiert". Während die Bundesregierung beschließe, das Renteneintrittsalter anzuheben, würden immer mehr ältere Arbeitnehmer arbeitslos und fänden keine neue Beschäftigung. "Daraus schließen sie logischerweise, dass dies kein Beschluss ist, das Renteneintrittsalter anzuheben, sondern lediglich ein Beschluss ist, die Renten zu kürzen."

Dieser stehe im Gegensatz zu all dem, was im Wahlkampf versprochen worden sei. Es sei eine schlimme Entwicklung, dass nach den Wahlen "immer wieder völlig andere Entscheidungen getroffen werden als die, die vor den Wahlen angekündigt worden sind."

"Wir wollen eine Freiheit von Existenzangst und sozialer Not"

Die Bundesregierung setze die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dieser Entscheidung "einer doppelten Angst aus", so Lafontaine. Zunächst seien sie mit der Tatsache konfrontiert, dass sie, wenn sie arbeitslos würden, nur noch zwölf Monate lang Arbeitslosengeld bekämen und dann auf Hartz IV zurückfielen. "Diese unglaubliche Enteignung der Arbeitnehmerschaft, insbesondere der älteren Arbeitnehmerschaft, ist bis zum heutigen Tage nicht zurückgenommen."

Abgesehen davon, dass Arbeitnehmer, wenn sie älter geworden seien, keinen Arbeitsplatz mehr bekämen, "konfrontieren Sie sie jetzt auch noch mit der Tatsache, dass sie aber gleichzeitig qua Gesetz länger arbeiten sollen, was kräftige Abschläge bei den Renten zur Folge hat. Diese Entwicklung haben wir uns nicht so vorgestellt, Ihre Wählerinnen und Wähler auch nicht", kritisierte der Linksfraktionschef.

Das Motto der Bundeskanzlerin "mehr Freiheit" zu wagen zeige sich als "Freiheit von Kündigungsschutz, Freiheit von Tarifverträgen, Freiheit von sozialer Sicherheit". Das aber sei "nicht die Freiheit, die wir wollen". Lafontaine: "Wir wollen eine Freiheit von Existenzangst und sozialer Not. Nur dann seien die Menschen frei, ihr Leben selbst zu gestalten.

Lafontaine: Entscheidend für die Rente ist nicht die demographische Entwicklung, sondern die Produktivität einer Volkswirtschaft

Der Oppositionspolitiker stellte auch das viel bemühte Argument der demographischen Entwicklung vollständig in Frage: "Über die Entwicklung der Rente entscheidet nicht die Zahl der Kinder und der Älteren, auch wenn das pausenlos immer wieder verkündet wird", so Lafontaine. "Über die Entwicklung der Rente entscheidet in erster Linie die Produktivität einer Volkswirtschaft."

"Ihre ganze Entscheidung ist dadurch gekennzeichnet, dass Sie dieser Schlüsselgröße nicht den Stellenwert beimessen, der ihr zukommen sollte", warf Lantaine seinem ehemaligen Parteifreund Müntefering vor. "Ich erläutere das am Beispiel der Landwirtschaft. Früher, vor 100 Jahren, hat der Landwirt sich selbst ernähren können. Es mussten alle mitarbeiten: die Älteren, so lange sie konnten, und die Kinder. 50 Jahre später stieg die Produktivität so stark an, dass die Älteren den Lebensabend genießen und die Kinder zur Schule gehen konnten. Heute kann ein Landwirt Hunderte andere Menschen ernähren."

Angesichts dieser hohen Produktivität sage nun die Regierung, wir müssten wieder länger arbeiten, wir seien nicht mehr wettbewerbsfähig und die Renten seien nicht mehr gesichert. "Das ist ein fundamentales Missverständnis von Produktivitätsentwicklung und Reichtumsverteilung in unserer Volkswirtschaft", so Lafontaine.

"Dieses fundamentale Missverständnis" sei auch auf die Entwicklung der Löhne übertragen worden, die "in Deutschland so katastrophal wie in keinem anderen Industriestaat verlaufen" seien. Während die Reallöhne in mit Deutschland konkurrierenden Staaten in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent, teilweise sogar um 25 Prozent gestiegen seien, "ist bei uns seit über zehn Jahren aufgrund einer völlig verfehlten Politik eine Stagnation der Reallöhne zu verzeichnen". Das ist nach Auffassung des Oppositionspolitikers "der zweite Fehler", den die Bundesregierung gemacht habe.

"Auch über die Entwicklung der Arbeitszeit entscheidet die Produktivität"

Der dritte Fehler betreffe die Entwicklung der Arbeitszeit. Auch darüber entscheide die Produktivität einer Volkswirtschaft. Lafontaine: "Ich muss Ihnen schon sagen: Wer auf einen Anstieg der Produktivität mit einer Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit antwortet, ist schlicht schwachsinnig."

"Ich muss dieses Wort in aller Klarheit gebrauchen. Denn die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den Ländern haben Recht, wenn sie sagen, dass die Forderung nach einer Verlängerung der Arbeitszeit nicht nachzuvollziehen ist", so Lafontaine. "In unserem Land suchen 5 Millionen Menschen Arbeit. Aber die einzige Antwort, die Sie geben, ist, dass diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben – zum Beispiel im öffentlichen Dienst, der bekanntlich in gewaltiger internationaler Konkurrenz steht –, länger arbeiten müssen, weil sonst unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit dahin ist."

Schließlich kritisierte Lafontaine noch eine "Beschädidung der sozialen Sicherungssysteme" durch die Veränderung der Zahl der Beitragszahler. "Wer durch die eigene Gesetzgebung dazu beiträgt, dass immer mehr Minijobs und Ich-AGs entstehen, der reduziert die Zahl der Beitragszahler und ruiniert dadurch letztendlich unsere sozialen Sicherungssysteme. Es ist an der Zeit, dass Sie diese verhängnisvolle Arbeitsmarktpolitik aufgeben", forderte Lafontaine.

Nach Auffasung des Links-Politikers gibt es "ein Konzept, das für die Weiterentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme richtungweisend ist: die Bürgerversicherung beziehungsweise Volksversicherung. Die Grundlage dieses Konzepts ist, dass in einer Gesellschaft, in der die Arbeitseinkommen eine immer geringere Bedeutung und die Vermögens- und Unternehmenseinkommen eine immer größere Bedeutung haben, alle Einkommensarten zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme herangezogen werden, so dass sich der gut verdienende Teil unseres Volkes nicht aus der Solidarität verabschieden kann."

Man könne "zwar versuchen, auf Dauer gegen die Mehrheit des Volkes anzuregieren", so Lafontaine abschließend. "Aber irgendwann merkt die Mehrheit das und dann wird sie entsprechend reagieren. Das Volk kann sich gegen diese Enteignung nur dadurch wehren, dass es Ihnen das Vertrauen entzieht."