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Krankenkassen müssen im Einzelfall auch alternative Therapien bezahlen

Recht auf Leben verletzt

Die gesetzlichen Krankenkassen dürfen bei lebensbedrohlichen Erkrankungen Leistungen für medizinisch fragwürdige Therapiemethoden unter bestimmten Voraussetzungen nicht verweigern. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Es müsse eine "nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf" bestehen. Ein Ausschluss der Leistungen in solchen Fällen verstoße gegen das Grundrecht auf Leben und gegen das Sozialstaatsprinzip, heißt es in dem am Freitag veröffentlichten Grundsatzbeschluss.

Die bereits 1998 eingelegte Verfassungsbeschwerde eines heute 18-jährigen Schülers war damit erfolgreich. Er leidet an einer seltenen Muskelerkrankung, der Duchenne'schen Muskeldystrophie (DMD). Seine Krankenkasse hatte sich geweigert, die Kosten einer von der Schulmedizin nicht anerkannten "Bioresonanztherapie" zu übernehmen, da ein Behandlungserfolg wissenschaftlich nicht nachgewiesen sei. Mit seiner dagegen gerichteten Klage war der junge Mann in letzter Instanz vor dem Bundessozialgericht gescheitert.

Die Karlsruher Richter betonten hingegen, dass in der "extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr" ein Leistungs-Ausschluss nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das Leben vereinbar sei. Mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung übernehme der Staat Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten. Deshalb gehöre die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen "zum Kernbereich der Leistungspflicht" und zur "Mindestversorgung".

Das Verhalten der Krankenkasse sei auch nicht mit dem Sozialstaatsprinzip vereinbar, betonte der Erste Senat. Denn den Versicherten werde für ihre Beiträge eine "notwendige Krankheitsbehandlung" gesetzlich zugesagt. Die Sozialgerichte müssten jeden konkreten Einzelfall prüfen.

Bislang gibt es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des Verlaufs von DMD bewirkt. Die Lebenserwartung ist stark eingeschränkt.

Die seltene Krankheit tritt nur bei Jungen auf, und zwar mit einer Häufigkeit von 1 zu 3500. Sie zeigt sich schon in den ersten Lebensjahren und schreitet dann fort. Betroffene verlieren normalerweise zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr die Fähigkeit, zu gehen. Der Kläger, der eine öffentliche Schule besucht, muss seit fünf Jahren im Rollstuhl sitzen.

Erkrankte haben außerdem Schwierigkeiten beim Atmen. DMD äußert sich auch in einer Deformierung der Wirbelsäule, Bewegungseinschränkungen von Gelenken und Herzmuskelerkrankungen. Üblicherweise wird lediglich versucht, die Symptome zu bekämpfen - mit Cortisonpräparaten, Operationen oder Gymnastik.

Der Kläger wird aber seit September 1992 von einem Facharzt für Allgemeinmedizin behandelt, der neben Zytoplasma und homöopathischen Mitteln auch hochfrequente Schwingungen ("Bioresonanztherapie") anwendet. Bis Ende 1994 hatten die Eltern des jungen Mannes dafür bereits 10.000 D-Mark (5112 Euro) aufgewandt. Die Ärzte einer Orthopädischen Uni-Klinik und eine mitbetreuende Ärztin hielten den Krankheitsverlauf für günstig.

(AZ: 1 BvR 347/98 - Beschluss vom 6. Dezember 2005)